Angst vor einem neuen Tschernobyl
Fragen und Antworten zum Angriff und den möglichen Folgen des Brands im ukrainischen Kernkraftwerk Saporischschja
- Russische Truppen haben in der Nacht zum Freitag das Kernkraftwerk Saporischschja im Südosten der Ukraine erobert. Meldungen über Feuer an der größten Atomanlage Europas haben Erinnerungen an die Katastrophe in Tschernobyl hervorgerufen und Sorgen auf dem ganzen Kontinent ausgelöst. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was genau ist in Saporischschja passiert?
Bei Kampfhandlungen ist auf das Nebengebäude eines Kraftwerksblockes geschossen worden, das nun beschädigt ist. Zudem geriet eine Schulungseinrichtung auf dem Gelände des Kraftwerks in Brand, der inzwischen wieder gelöscht ist. Radioaktivität ist nicht ausgetreten, wie mehrere Behörden mitteilten. Die Gefahr eines Atomunfalls bestehe momentan nicht. Zwar sei das Gelände nun unter russischer Kontrolle, dennoch würden die Betriebsmannschaften laut Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) im regulären Betrieb weiterarbeiten.
Wie sicher sind die ukrainischen Atomkraftwerke?
Laut GRS ist in den vergangen Jahren viel für die Sicherheit der Anlagen getan worden. Nach dem Atomunfall im japanischen Fukushima habe das Land freiwillig an einem Stresstest teilgenommen, der in der ganzen EU durchgeführt wurde. Der Reaktor in Saporischschja selbst ist zudem von einer Stahlbetonhülle ummantelt, die den Absturz eines 10 Tonnen schweren Kleinflugzeuges bei einer Geschwindigkeit von 750 Stundenkilometern aushalten würde. Dies gilt jedoch nicht für alle der insgesamt 15 Druckwasserreaktoren, die sich an vier Standorten befinden.
Würden die Atomkraftwerke auch einem Angriff standhalten? Ob die Anlagen auch Raketen- oder Granatenbeschuss standhalten könnten, vermochte am Freitag kein Experte zu sagen. Da es in der Geschichte noch keinen Angriff auf ein Atomkraftwerk gegeben hat, fehlen hierzu Erfahrungswerte. Ein Beschuss der Anlage muss aber nicht zwangsläufig zu einem kerntechnischen Unfall führen, sagt
GRS-Experte Sebastian Stransky. Denn dafür müssten auch im Inneren der Anlage Prozesse außer Kontrolle geraten.
„Die eigentliche Sorge ist nicht eine katastrophale Explosion wie in Tschernobyl, sondern die Beschädigung des Kühlsystems, das auch bei abgeschaltetem Reaktor benötigt wird“, sagt auch David Fletcher, Atomexperte von der Uni Sydney. Ein Ausfall der Kühlung habe etwa auch zum Unfall in Fukushima im März 2011 geführt. Sollte die Stromversorgung der Kühlanlagen unterbrochen werden, etwa aufgrund eines kriegsbedingten Blackouts, müssten sie mit konventionellen Dieselgeneratoren weiterbetrieben werden.
Welche Gefahren birgt der Krieg für die Meiler?
Die Atomkraftwerke werden von der ukrainischen Nationalgarde bewacht, sodass es in ihrer unmittelbarer Nähe immer zu Gefechten und somit auch Schäden an den Anlagen kommen kann. Sorgen macht den Experten allerdings vor allem etwas anderes. „Das größte Risiko, das ich derzeit in der Ukraine sehe, ist die Verfügbarkeit von Personal“, sagt der Technische Geschäftsführer der GRS, Uwe Stoll. So seien viele Kraftwerksangestellte momentan entweder auf der Flucht oder meldeten sich freiwillig bei der ukrainischen Armee. „Auch für abgeschaltete Anlagen ist jedoch ausreichend Personal nötig, um die Systeme zu überwachen und die
Kühlanlage weiter in Betrieb zu halten“, so Stoll. Bei den abgeschalteten Meilern in Tschernobyl etwa ist laut Internationaler Atomenergie-Behörde seit Beginn des Krieges ununterbrochen dieselbe Mannschaft vor Ort. Dies könne dort noch gut gehen, bei aktiven Kraftwerken müssten allerdings sehr viel mehr Steuerungsfunktionen bedient werden.
Was würde im schlimmsten Fall in Deutschland drohen? Saporischschja ist rund 2000 Kilometer von Deutschland entfernt, das westlichste ukrainische Kraftwerk etwa 1000 Kilometer. Sollte es zu einer Kernschmelze in einem der AKW kommen, hängt das Risiko für die deutsche Bevölkerung laut Behörden
sehr stark von den aktuellen Windverhältnissen ab. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) hat gemeinsam mit dem Deutschen Wetterdienst in den vergangenen Jahren bereits eine Gefahrenanalyse für Saporischschja durchgeführt, die ergeben hat, dass während eines Jahres in 83 Prozent aller Fälle die Luftmassen in Richtung Osten strömen. Auch in den kommenden 72 Stunden weht der Wind in Richtung Russland.
Selbst wenn dies nach einer Kernschmelze nicht der Fall wäre, wäre die Strahlenbelastung hierzulande wahrscheinlich nicht hoch genug, als dass laut BfS erhebliche Maßnahmen des Katastrophenschutzes wie Evakuierungen nötig wären. „Für den Fall, dass Luftmassen nach
Die ersten Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten der Ukraine erreichen die Region. Wie kann man helfen? Schwäbische.de hat im Internet ein Portal eingerichtet, um Hilfswillige, Helfer und Projekte vor Ort zu vernetzen.
Bürgerinnen und Bürger können über das Portal kostenlos einerseits Projekte nach Ort oder Postleitzahl finden – sie können aber auch ganz unkompliziert neue Angebote oder Gesuche über ein einfaches Formular eingeben und so Mithelfer oder Verbündete gewinnen.
Unter dem Motto „Schwäbische bringt zusammen" finden sich dort zahlreiche Initiativen, vom Helferkreis für Flüchtlinge über Wohnungsvermittlungen bis hin zu Betreuungsangeboten oder Hilfslieferungen aus der Region – inklusive Ansprechpartner, Hinweisen zu benötigten Hilfsmitteln oder wichtigen Terminen.
Das Portal steht auch Kommunen und Landkreisen offen, um auf eigene Hilfsaktionen oder etwa Aufrufe zur Wohnungsvermittlung hinzuweisen. Sie finden „Schwäbische bringt zusammen“ab sofort unter www.schwaebische.de/ukrainehilfe
Deutschland kommen würden, wären insbesondere in der Landwirtschaft Maßnahmen nötig“, sagt BfSExperte Florian Gering. Die Futterund Lebensmittelproduktion müsste überwacht werden, sodass belastete Produkte nicht in den Markt gelangen. Zudem könnte es an den Grenzen Kontrollen auf Kontamination von Waren und Menschen geben. Derzeit sieht das BfS aber keine Gefährdung der Bevölkerung.
Das BfS prüft die Lage und informiert über neue Entwicklungen.
Aktuelle Informationen zum Russland-UkraineKonflikt gibt es unter www.schwaebische.de/russland