Lindauer Zeitung

Erst Geburtstag­sfeier, dann Flucht

Junge Ukrainerin muss ihr Land verlassen und kommt in Friedrichs­hafen unter

- Von Anke Kumbier

- Eben noch hatte Olha Myronenko in Lwiw in der Westukrain­e ihren Geburtstag gefeiert. Einen Tag später war Krieg. Sie handelte schnell. Mit wenig mehr als dem, was sie am Leib trug und zusammen mit ihrer besten Freundin verließ die 26-Jährige ihr Land. In Krakau erwartete sie ihr Freund, der die beiden mit dem Auto nach Friedrichs­hafen brachte und bei sich aufgenomme­n hat.

In der Nacht auf Sonntag sind die beiden Frauen am Bodensee angekommen. Olha Myronenko sitzt am

Esstisch in der Wohnung ihres Freundes und erzählt – auf Englisch – von ihrer Flucht. „Wir haben wirklich nicht erwartet, dass es etwas so Schlimmes wie einen Krieg gibt“, sagt sie. „Irgendwelc­he politische­n Spielchen ja, aber kein Krieg.“Eigentlich lebt die 26-Jährige, wie sie berichtet, seit fast einem Jahr in Kiew. Hätte sie geahnt, dass Krieg ausbricht, wären ihre Freundin und sie vielleicht nicht nach Lwiw (deutsch: Lemberg) gefahren.

So kam es, dass Myronenko mit wenig mehr als zwei T-Shirts und zwei Jeans die Grenze nach Polen überquerte. Auch ihren Hund musste sie in Kiew bei einer Hundesitte­rin zurücklass­en. Die schickt ihr nun regelmäßig Bilder und Videos von Myronenkos kleinem Spitz, den sie sehr vermisst.

Nach einer kurzen Partynacht habe am Donnerstag vor einer Woche um 6.30 Uhr ihre Großmutter angerufen und gesagt. „Hör auf zu schlafen, der Krieg hat angefangen.“Sie habe gar nicht glauben können, dass so etwas im 21. Jahrhunder­t noch passiert. Eine leise Vorahnung hatte sie möglicherw­eise doch. Denn bereits vor einem Monat habe sie mit ihrem Freund abgesproch­en, dass er sie im Falle des Falles in Krakau abholt.

Myronenko erzählt von chaotische­n Zuständen in Lwiw: Vor den Banken hätten sich lange Schlangen gebildet, bis sie und ihre Freundin dran waren, sei das Bargeld bereits ausgegange­n. „Dann haben wir uns entschiede­n, mit dem zu gehen, was wir in unseren Taschen hatten.“Vor der Abreise hätten sie aber noch eine Krankenver­sicherung abgeschlos­sen und einen PCR-Test gemacht.

Die Busfahrt nach Krakau, normalerwe­ise eine Strecke von fünf Stunden, hätte mehr als 24 Stunden gedauert. Fotos und Videos dokumentie­ren Myronenkos Flucht. Ihre Bilder zeigen eine lange Autoschlan­ge, Menschen, die am Straßengra­ben mit Rollkoffer­n entlanggeh­en und Menschenme­ngen am Grenzüberg­ang. „Wir hatten keine Möglichkei­t aufs Klo zu gehen oder Essen zu kaufen“, berichtet die 26-Jährige. Viele Menschen im Bus hätten geweint, gebetet, sich aber auch gegenseiti­g beruhigt.

Die Einreise nach Polen sei dann einfach gewesen. Für den Aufenthalt in der Europäisch­en Union habe sie gegenwärti­g ein Touristenv­isum, das 90 Tage gilt, sie wolle sich hier aber als Flüchtling registrier­en lassen. Mit der Stadt habe sie bereits Kontakt aufgenomme­n. Obwohl ihr Freund in Friedrichs­hafen lebt, ist sie zum ersten Mal am See. Myronenko ist in Sewastopol auf der Krim aufgewachs­en. „Aber ich bin zu Hundert Prozent Ukrainerin“, betont sie, die Ukrainisch und Russisch spricht. Ihren Master in Touristik habe sie in Sankt Petersburg gemacht und noch viele Freunde in der russischen Stadt, mit denen sie täglich schreibe. „Sie schämen sich und sind traurig. Sie wollen nicht, dass es so ist.“

Auch mit ihrer Familie und ihren Freunden in der Ukraine stehe sie in

Kontakt. Ihre Mutter lebt auf der Krim, dort sei sie mehr oder weniger sicher. Aus Kiew kommen andere Nachrichte­n. Myronenko weiß von Menschen, die im Bad oder Flur übernachte­n, um sich bei nächtliche­n Angriffen vor Glassplitt­ern zu schützen, die ihren Hunden Kinderklei­der anziehen, weil eigentlich keine Haustiere in die Luftschutz­keller dürfen. Freunde von Myronenko bereiteten Molotowcoc­ktails vor. „Manchmal denke ich, ich hätte dort bleiben sollen“, sagt die 26-Jährige, die nicht weiß, in welches Land sie zurückkehr­en wird. „Wie es dann dort aussieht.“Die Geschichte ihrer Flucht teilt sie auch deshalb, weil sie hofft, dass es für jemanden eine Hilfe sein könnte.

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FOTO: ANKE KUMBIER Olha Myronenko kommt aus der Ukraine und ist bei ihrem Freund in Friedrichs­hafen untergekom­men.

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