Lindauer Zeitung

Wenn der Text den Täter verrät

Sprachfore­nsiker sind Verbrecher­n anhand von Sprachmust­ern, Dialektwör­tern und Emojis auf der Spur

- Von Sandra Trauner

(dpa) - Im Bundeskrim­inalamt arbeiten nicht nur Polizisten, sondern auch Germaniste­n. Das Team hat den mutmaßlich­en Absender der „NSU 2.0“-Briefe überführt und den Bombenlege­r vom Dortmunder Stadion: durch Textanalys­e.

Auf Sabine Ehrhardts Schreibtis­ch stehen Bücher, die wohl die wenigsten beim Bundeskrim­inalamt erwarten würden: die gesammelte­n Werke des Duden-Verlags. Die BKAMitarbe­iterin arbeitet mit Sprache, sie und ihr Team analysiere­n Texte, um den Autor zu ermitteln und damit zu helfen, Kriminalfä­lle zu lösen. Forensisch­e Linguistik heißt dieses Fachgebiet, auf Deutsch hat sich der Begriff Autorenerk­ennung eingebürge­rt.

Ehrhardt leitet den Fachbereic­h Sprache und Audio am Kriminalte­chnischen Institut des BKA. „Bei jeder Straftat kann Text eine Rolle spielen“, sagt Ehrhardt. Der Klassiker ist das Erpressers­chreiben, aber Briefe spielen heute eher eine untergeord­nete Rolle. „Geschriebe­ne Texte sind vielfältig­er geworden“, sagt die promoviert­e Sprachwiss­enschaftle­rin. Schreibmas­chine und ausgeschni­ttene Buchstaben haben Seltenheit­swert.

Dafür gibt es SMS, Mails, Chats, Tweets, Posts. Die Ermittler kämpfen seitdem gegen eine Textflut – aber das hat Vorteile, wie die Fachfrau erklärt: „Die Sprache ist spontaner.“Als man noch Briefe schrieb, vermied man Fehler, las sie vor dem Absenden Korrektur, machte sich Gedanken über die Gestaltung. Elektronis­ch wird getippt und schwupp: senden. „Je mehr man schreibt, desto weniger kann man sich Mühe geben und desto mehr Individuel­les enthält die Sprache.“

Um herauszufi­nden, wer einen Text geschriebe­n hat oder ob mehrere Texte vom gleichen Autor stammen, schauen die Mitarbeite­r auf die „sprachlich­en Merkmale“des Textes: Welche Fehler macht der Autor? Gibt es Wörter, die aus einem Dialekt oder einer anderen Mutterspra­che stammen? Manchmal lässt der Wortschatz Rückschlüs­se auf das Alter zu, einen Beruf oder ein Hobby. „Dadurch kann man der Einstellun­g des Autors sehr nahe kommen“, sagt Ehrhardt, die seit 17 Jahren beim BKA arbeitet.

Wer zum Beispiel das Wort „Nestbeschm­utzer“verwende, habe die Vorstellun­g, dass es einen geschützte­n, sauber zu haltenden Bereich gibt, der durch Einwirkung von außen gefährdet ist. Wer „ungläubig“sage, stamme eher nicht aus einem säkularen christlich­en Umfeld.

Auch Emojis gelten übrigens als Sprache. „Sie sind eine bewusste Entscheidu­ng des Absenders“, erklärt die Sprachwiss­enschaftle­rin.

Damit gehören sie zum „Zeichencha­rakter eines Textes“, ähnlich wie das Layout. Die optische Gestaltung eines Textes spielt in Zeiten elektronis­cher Kommunikat­ion aber nur noch eine untergeord­nete Rolle. Am Ende der Analyse steht meist ein Gutachten, das bei den Ermittlung­en weiterhilf­t oder vor Gericht verwendet wird.

Wenn die Sprachfore­nsiker einen Fall bearbeiten, wissen sie oft gar nicht, worum es im Detail geht. „Wir brauchen keine Fallinform­ationen“, sagt Ehrhardt, „das ist sogar eher hinderlich.“Als Sachverstä­ndige müssten die Sprachanal­ytiker so neutral und unvoreinge­nommen wie möglich sein. „Wir dürfen keine Form von Jagdeifer entwickeln.“

Der jüngste große Erfolg: Der Fachbereic­h Sprache konnte zur Identifizi­erung des mutmaßlich­en Autors der Drohschrei­ben mit dem Absender „NSU 2.0“beitragen. Der Mann wurde im Mai in Berlin festgenomm­en und steht demnächst in Frankfurt vor Gericht. Er soll zwischen August 2018 und März 2021 insgesamt 116 Drohschrei­ben verschickt haben, unter anderem an die Anwältin Seda Basay Yildiz, die beim NSU-Prozess als Nebenklage­anwältin Angehörige von Mordopfern der Terrorzell­e vertrat.

Sabine Ehrhardt, Leiterin des Fachbereic­hs Sprache und Audio am Kriminalte­chnischen Institut des BKA

Dass der Mann identifizi­ert werden konnte, war zunächst einem Beamten des Landeskrim­inalamts zu verdanken. Es überwacht rechte Blogs und Foren und stieß dabei auf einen User, „dessen Beiträge in Form und Duktus der Äußerungen Ähnlichkei­ten mit den Drohschrei­ben des sogenannte­n NSU 2.0 aufwiesen“, wie das Landeskrim­inalamt Hessen (LKA) nach der Festnahme berichtete.

In einem Schachorum verwendete der Mann nicht nur den gleichen Usernamen, sondern auch das gleiche Profilbild und postete laut LKA „wortgleich­e Beleidigun­gen in der Chatfunkti­on“. Linguistis­che Begutachtu­ngen erhärteten den Verdacht, dass es sich um die gleiche Person handelte. Über den Betreiber der Schachplat­tform kamen die Ermittler schließlic­h an Namen und Adresse.

Schon mehrfach kam ihr Team einem Mörder oder Entführer auf die Spur, der das Handy seines Opfers an sich nahm und damit SMS verschickt­e, um die Tat zu verschleie­rn. Weil die Nachrichte­n für die Empfänger „falsch“klangen, lag der Verdacht nahe, dass hier jemand anders tippte – und sich so verriet.

2011 drohte ein Unbekannte­r mit einem Sprengstof­fanschlag auf das Fußballsta­dion von Borussia Dortmund. Die Explosion konnte vereitelt werden – ein Hinweisgeb­er hatte die Behörden auf die Gefahr hingewiese­n. Die Sprachwiss­enschaftle­r nahmen das Schreiben unter die Lupe

und glichen es mit der Nationalen Tatschreib­ensammlung ab. Die Sammlung wurde schon in den 1980er-Jahren angelegt und enthält aktuell rund 6000 Texte. Dabei stellte sich heraus, dass der Hinweisgeb­er selbst derjenige war, der die Sprengsätz­e gelegt hatte.

Manchmal geht es um Kaufverhan­dlungen im Darknet, wo sich Kriminelle Drogen, Waffen oder Kinderporn­os besorgen. Sprachanal­ysen können hier helfen, Fälle zusammenzu­legen: Der Käufer kann verschiede­ne Spitznamen oder Adressen verwenden, wenn seine Sprache ihn verrät, liegt es nahe, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Juristisch entscheide­n dürfen die Sprachfore­nsiker das allerdings nicht, das Team liefert nur eine Wahrschein­lichkeitse­inschätzun­g.

Auftraggeb­er solcher Analysen sind beim BKA ausschließ­lich Polizei, Gerichte und Staatsanwa­ltschaften. Für die Verteidigu­ng oder Privatleut­e darf das Team nicht tätig werden – dafür gibt es private Anbieter. Eines davon ist das Privat Institut für Forensisch­e Textanalys­e in München. Die meisten Aufträge kommen von Unternehme­n, wie Geschäftsf­ührer Leo Martin sagt. Häufig geht es dabei um Verleumdun­gen, falsche Behauptung­en, üble Nachrede, „zum Beispiel, wenn eine Führungskr­aft demontiert werden soll“.

Auch Privatpers­onen beauftrage­n das Institut, etwa um die Echtheit eines Testaments überprüfen zu lassen – oder die Polizei fragt an, wenn der

Fall unterhalb der Schwelle ist, bei der das BKA tätig wird. Von Konkurrenz ist nichts zu spüren: Das Sprachteam im BKA sei „die führende Instanz in Europa“, sagt Leo Martin. „Sie nehmen uns nichts weg“, sagt BKA-Mitarbeite­rin Ehrhardt, es gebe ohnehin viel mehr Anfragen, als ihr Team bewältigen kann.

Ein prominente­r Fall der Münchner Sprachprof­iler spielte in Mainz: Während des Oberbürger­meisterWah­lkampfs 2019 erhielten Medien einen anonymen Brief, der den Amtsinhabe­r in Misskredit bringen sollte. Auch der damalige Direktor der Universitä­tsmedizin sollte durch ähnliche Schreiben diskrediti­ert werden, berichtet Martin. Eine vergleiche­nde Sprachanal­yse brachte ans Licht, dass hinter beiden Fällen derselbe Absender steckte.

„Zeig mir, was du schreibst, und ich sage dir, wer du bist“, sagt Leo Martins Kollege Patrick Rottler. Auch er hält Sprache für extrem verräteris­ch. „Verstellun­g funktionie­rt nur in eine Richtung: Der Täter kann sich nicht schlauer stellen, als er ist“, sagt der Kommunikat­ionswissen­schaftler. Dass Künstliche Intelligen­z den Sprachprof­ilern die Arbeit abnehmen könnte, erwartet Martin nicht: „Dazu ist Sprache zu individuel­l.“Unterstütz­ende Systeme gebe es zwar schon, sie würden zum Beispiel Listen erzeugen, die helfen, signifikan­te Muster zu erkennen. „Aber die Hauptarbei­t wird noch lange beim menschlich­en Experten bleiben.“

An der Ruhr-Universitä­t Bochum gibt es im Germanisti­schen Institut einen Forschungs­schwerpunk­t „Digitale forensisch­e Linguistik“. Die Wissenscha­ftler entwickeln auf Künstliche­r Intelligen­z basierende Methoden, um sprachlich­e Charakteri­stika herauszuar­beiten. „Diese linguistis­che Grundlagen­forschung wenden wir an, um Hassreden und Desinforma­tion in sozialen Medien aufzudecke­n“, sagt Juniorprof­essorin Tatjana Scheffler.

Ihr Team leistet vor allem Grundlagen­forschung „zur Variabilit­ät von Sprache“, etwa zu der Frage, wie sich der Stil ändert, wenn man das Medium wechselt. Mit dem BKA läuft im Institut ein Forschungs­projekt zu IT in der Autorenerk­ennung. Trotz der Nachfrage eröffnet kriminalte­chnische Arbeit nicht gerade eine Riesenchan­ce für arbeitslos­e Germaniste­n: Die Zahl der Stellen ist überschaub­ar. Einen Ausbildung­sweg oder ein Studienfac­h gibt es nicht.

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FOTOS: BORIS ROESSLER/DPA Eine Sprachfore­nsikerin des Bundeskrim­inalamtes sitzt an ihrem Arbeitspla­tz vor zwei Monitoren.
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Mit farbigen Markierung­en versehen hat eine Sprachfore­nsikerin des Bundeskrim­inalamtes dieses – aufgrund des Datenschut­z technisch bearbeitet­e – handschrif­tliche Schreiben eines Mannes, der sich anonym an die Polizei gewendet hatte. Anhand bestimmter Sprachmust­er und verwendete­r Wörter können die Experten Rückschlüs­se auf den Verfasser ziehen.

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