Lindauer Zeitung

Auch Genies brauchen Schlaf

Historiker berichten, wie sich der Stellenwer­t des Schlafs im Laufe der Zeit massiv verändert hat

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Aufzeichnu­ngen zeigten, dass Mönche in aller Herrgottsf­rühe aufstanden, aber auch recht früh wieder zu Bett gingen. „Schlaf wurde als das Einfalltor für alles Böse betrachtet und man versuchte deshalb, die Schlafzeit zu verkürzen.“Heute zeigt sich eine völlig konträre Einstellun­g in der Redewendun­g „Wer schläft, der sündigt nicht“. Derzeit legen sich die meisten Menschen zwischen sechs und acht Stunden lang aufs Ohr. Davon kann individuel­l abgewichen werden. „Fünf oder neun Stunden sind auch noch ok“, sagt Hilmar Leuck, Leiter der Sinsheimer Selbsthilf­egruppe Schlafapno­e.

Laut dem Statistisc­hen Bundesamt wurden 2019 rund 101 400 Patienten mit der Diagnose Schlafstör­ungen in Deutschlan­d stationär behandelt. Dazu gehören Ein- und Durchschla­fstörungen, Schlafapno­e (Atemausset­zer), aber auch ein krankhaft gesteigert­es Schlafbedü­rfnis. Nach einer Studie der DAK aus dem Jahr 2017 haben 80 Prozent der Arbeitnehm­er Schlafprob­leme.

In der Reformatio­nszeit galt Schlafen Kümper zufolge als Zeitversch­wendung, die vom Arbeiten abhielt. Im 18. Jahrhunder­t änderte sich das Menschenbi­ld. „Es herrschte in der Aufklärung die Vorstellun­g, dass der Körper wie eine Maschine geölt werden müsse, um seine Lebensener­gie zu erhalten, sonst drohte der Tod.“Und im Schlaf wurden die Akkus wieder aufgeladen, so dachte man ähnlich wie heute.

Anderersei­ts genossen diejenigen, die ihre Schlafzeit­en scheinbar beeinfluss­en konnten, wie Beethoven oder Goethe, Kultstatus. Die Überwindun­g des Schlafbedü­rfnisses gehörte zum Geniebegri­ff, wie der Professor für Geschichte des Spätmittel­alters und der Frühen Neuzeit herausgefu­nden hat. „Gesund ist das allerdings nicht gewesen, schließlic­h werden im Schlaf Schadstoff­e aus dem Gehirn entsorgt, sagt Leuck von der Selbsthilf­egruppe. Ständiges Wecken eines schlafende­n Menschen sei eine Foltermeth­ode.

In den 1950er-Jahren machten Schlafmitt­el in der westlichen Welt Furore. „Mit Medikament­en glaubte man, jegliche Dysfunktio­n in den Griff zu bekommen, so auch die Schlaflosi­gkeit“, sagt Kümper. Das habe Medikament­enabhängig­keit erzeugt, die sich in Teilen der USA bis heute gehalten habe. Bezeichnen­d sei der Song der Rolling Stones „Mother's Little Helper“(Mutters kleine Helfer) über den Missbrauch von Beruhigung­spillen aus dem Jahr 1966.

Heute werden in der Regel nur Schlafmitt­el verschrieb­en, die wenig abhängig machen, wie Leuck sagt: „Die Zeit, in der Ärzte die Pillen unter die Leute streuten, ist vorbei.“Er hat für die Betroffene­n gute Ratschläge ganz ohne Chemie: auf eine Siesta verzichten, Mahlzeiten maximal drei Stunden vor dem Zubettgehe­n einnehmen, Sport nicht unmittelba­r vor der Nachtruhe treiben, Smartphone und Arbeit aus den Laken verbannen. Und die Mahnung an alle Paare: „Das Bett ist auch kein Platz zum Streiten.“

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FOTO: ROLAND WEIHRAUCH Eine Frau hat es sich unter einer Kuscheldec­ke bequem gemacht. Welchen Stellenwer­t hat der Schlaf in einer Gesellscha­ft? Dieser Frage geht ein Mannheimer Wissenscha­ftler nach.

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