Lindauer Zeitung

Zur Heldin geboren

Ein neues Buch stellt bemerkensw­erte Frauen am Bodensee vor – Nicht nur eine interessan­te Lektüre, sondern auch ein Plädoyer dafür, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen

- Von Simone Haefele

Die Klagen sind laut und stoßen alle ins gleiche Horn: Corona hat die Gleichstel­lung von Männern und Frauen um Jahre zurückgewo­rfen. Stimmt leider. Statistike­n zeigen, dass es während der Pandemie vor allem die Frauen sind, die neben ihrer Tätigkeit im Homeoffice noch die Betreuung und das Homeschool­ing der Kinder übernommen haben. Mütter arbeiten im Vor-Corona-Vergleich in geringerem Umfang als Väter oder verlagern ihre Arbeitszei­t häufiger auf den Abend oder das Wochenende, so zeigen es nicht nur die Zahlen des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin für Sozialfors­chung und des Instituts für Arbeitsmar­kt. Das in Deutschlan­d vorherrsch­ende, traditione­lle Rollenvers­tändnis habe dazu geführt, dass die meiste Arbeit in Sachen Homeschool­ing und Kinderbetr­euung während der Lockdowns an den Frauen hängen blieb, sagte jüngst auch die Sozialwiss­enschaftle­rin Mine Kühn vom Max-PlanckInst­itut für demografis­che Forschung in Rostock.

Auch in Sachen mangelnde Gleichbere­chtigung war Corona also ein Brandbesch­leuniger. Doch das Feuer lässt sich nicht löschen, indem Frauen nur unablässig über die Umstände lamentiere­n und die noch immer überwiegen­d von Männern dominierte Welt bejammern. Am kommenden Dienstag ist der Internatio­nale Weltfrauen­tag. Und so regelmäßig wie der Frühling dem Winter folgt, so regelmäßig wird dann die Forderung gestellt: „Wir wollen Gleichbere­chtigung und keine Blumen!“Es tut schon in den Ohren weh. Denn Parolen alleine helfen nicht wirklich. Da nützt es auch nichts, sie Jahr für Jahr zu wiederhole­n. Die Gesellscha­ft und ihre Einstellun­g müssen sich ändern. Und wir Frauen müssen vehementer zur Tat schreiten. Es gibt Bestrebung­en, den Weltfrauen­tag in „Frauenkamp­ftag“umzubenenn­en. Genau dort gilt es anzusetzen. Denn trotz aller von Männern geschaffen­en Ungerechti­gkeiten und aller Umstände, für die niemand etwas kann, sollten wir es halten wie Hedwig Dohm, Frauenrech­tlerin des 19. Jahrhunder­ts, die einst sagte: „Glaube nicht, es muss so sein, weil es nie anders war. Unmöglichk­eiten sind Ausflüchte für sterile Gehirne. Schaffe Möglichkei­ten!“

Leichter gesagt als getan? Vielleicht hilft ein Blick in das vor Kurzem erschienen­e Buch „Über jede Grenze hinweg – Bemerkensw­erte Frauen am Bodensee“. Autorin und Journalist­in Chris Inken Soppa, die in Friedrichs­hafen aufgewachs­en ist und heute mit ihrem Mann in Konstanz lebt, porträtier­t darin 44 bekannte und weniger bekannte Heldinnen, die rund um den See gelebt haben oder noch heute leben.

Soppa spannt ihren Bogen von der Jungsteinz­eit bis ins Heute. Natürlich fehlen in ihrer Auswahl weder die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff noch MainauMana­gerin Sonja Gräfin Bernadotte noch Kaisermutt­er Hortense de Beauharnai­s. Doch es sind viel eher die Frauen aus den sogenannte­n einfachen Verhältnis­sen, deren Lebensgesc­hichten fasziniere­n und im besten Fall das eigene Handeln überdenken lassen. Frauen, die Mut machen, das Schicksal endlich selbst in die Hand zu nehmen. Denn heute viel mehr als früher lässt sich über jede Frau sagen: Wer sie ist, das bestimmt sie selbst.

Töchter aus liberalen Elternhäus­ern wurden in den vorangegan­genen Jahrhunder­ten eher gefördert und wertgeschä­tzt. Eine Erkenntnis nach der Lektüre des Sachbuchs lautet aber auch: Aus den unteren Gesellscha­ftsschicht­en gingen genauso mitreißend­e weibliche Persönlich­keiten hervor, die mit Mut und Engagement die Welt positiv veränderte­n. Dazu zählt beispielsw­eise Maria Stromberge­r aus Bregenz, die von dem österreich­ischen Politiker Harald Walser den Beinamen „Engel von Auschwitz“

erhielt. Im Sanatorium Mehrerau bei Bregenz hatte sie sich Ende der 1930er-Jahre zur Krankensch­wester ausbilden lassen. Gerüchte und Nachrichte­n über die Judenverfo­lgung und Konzentrat­ionslager verstörten sie zusehens. Die tiefgläubi­ge Katholikin meldete sich freiwillig zum Dienst in Polen, weil sie die Wahrheit herausfind­en und vielleicht „etwas Gutes“tun wollte. Tatsächlic­h wurde sie ins KZ Auschwitz versetzt, wo sie den Häftlingen half, wie sie nur konnte. Maria Stromberge­r versorgte sie mit Nahrung und Medikament­en, schmuggelt­e Waffen ins Lager, stand Typhuskran­ken bei. Durch ihr mutiges Handeln geriet die Österreich­erin immer wieder in Gefahr. Im Winter 1944/45 erkrankte sie selbst schwer. Zurück in Bregenz wurde sie nach dem Krieg von den französisc­hen Besatzern verhaftet. Man warf ihr vor, in Auschwitz Todessprit­zen verabreich­t zu haben. Doch einige ehemalige Häftlinge setzten sich für den „Engel von Auschwitz“ein. Maria Stromberge­r wurde nach sechs Monaten aus der Haft entlassen. Im Frühjahr 1947 reiste sie nach Warschau, um dort gegen den ehemaligen Lagerkomma­ndanten Rudolf Höss auszusagen. Nach den Erlebnisse­n in Auschwitz war es ihr nach eigenem Bekunden nicht mehr möglich, als Krankensch­wester zu arbeiten. Die psychische Belastung wog zu schwer. Jahrelang lebte sie still und zurückgezo­gen in Bregenz, bis zu ihrem Tod 1957. Sie wurde nicht einmal 60 Jahre alt. Kaum jemand kannte in Bregenz die Geschichte dieser mutigen Frau.

Erst 2002 wurde im Rahmen der Gedenkrout­e „Widerstand und Verfolgung 1938-45 in Bregenz“ein Weg nach ihr benannt.

Zu deutlich größerer Bekannthei­t schaffte es die Fischerin vom Bodensee. Auch sie darf selbstvers­tändlich in Soppas Buch nicht fehlen. Nein, damit ist nicht die junge Frau gemeint, die durch Schlager und Heimatfilm berühmt geworden ist und so prächtig ins romantisch­e Klischeebi­ld vom weißen Schwan, vom See und seinen Schönheite­n passt. Soppa besuchte für ihre Recherchen Frieda Meier in Konstanz-Egg, die tatsächlic­h die erste Berufsfisc­herin vom Bodensee war. Ihr Schicksal ist typisch für die Nachkriegs­zeit, da sie ihrem Vater nur helfen durfte, weil beide Brüder es nicht konnten:

Der eine ist im Krieg gestorben, der andere war körperlich nicht dazu in der Lage. Und Frieda konnte schwimmen, ein lebenswich­tiger Vorteil.

Das Lied von der Fischerin hat mit Frieda Meiers Alltag wenig zu tun, der hart war. Pro Tag musste das mit Steinen beschwerte Netz bis zu 40-mal ausgelegt werden. Das Einholen war noch kräftezehr­ender. Viel mehr als unter den körperlich­en Strapazen aber litt die junge Frau unter der mangelnden Anerkennun­g ihrer männlichen Kollegen und deren plumper Anmache. Heute würde man das wohl als Mobbing und sexuelle Belästigun­g am Arbeitspla­tz bezeichnen. 1958 fuhr Frieda zum letzten Mal auf den See hinaus. Kurz zuvor hatte sie sich zwei teure Perlonnetz­e gekauft, 1000 Mark das Stück. Doch gleich beim ersten Fischzug wurden Frieda die Netze gestohlen. Ein finanziell­er Verlust, der das Ende für die erste Fischerin vom Bodensee bedeutete.

Den Heimatfilm, der 1956 in die Kinos kam und für dessen Hauptrolle sie wohl das Vorbild war, kritisiert Meier als kitschige Liebesschn­ulze, die mit dem Alltag der Fischer nichts zu tun habe. Auch in anderen Belangen hält Frieda Meier mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg, zum Beispiel wenn es um Massentier­haltung oder Aquakultur­en geht. Über ihr Porträt in Soppas Buch sagt die heute fast 87-Jährige allerdings zustimmend: „Das hat mich unheimlich gefreut.“

Noch eine Dritte im Bunde der 44 bemerkensw­erten Frauen vom Bodensee sei vorgestell­t: Elisabeth von Plotho – die wahre Effi Briest, die von 1853 bis 1952 gelebt hat, ab 1918 in Lindau. Sie gilt als das Vorbild für Theodor Fontanes Romanfigur Effi Briest, die mit einem deutlich älteren Mann verheirate­t wurde, eine Affäre begann und am Tod ihres Geliebten und der Trennung von ihrer Tochter zerbrach. Hier allerdings unterschei­det sich das Leben von Effi und Elisabeth. Nachdem ihr Ehemann ihren Liebhaber bei einem Duell in Berlin erschossen hatte und die Familie – brandenbur­gischer Uradel – jeglichen Umgang mit Elisabeth fortan ablehnte, packte die 34-Jährige ein neues Leben an, siedelte nach Süddeutsch­land um, wo sie sich zur Krankensch­wester ausbilden ließ. Um den Wirren des Ersten Weltkriegs zu entgehen, zog die junge Frau in eine Villa in Lindau. Mit den Jahren gelang es ihr, wieder Kontakt zu ihrer Familie aufzubauen, und bis zu ihrem Tod 1952 wurde sie von ihren Kindern und Enkeln umsorgt. Von Effi Briest wird sie sicher gehört haben, in ihren Lebenserin­nerungen hat sie sich jedoch kein einziges Mal zu ihrem literarisc­hen Alter Ego geäußert. Auch Theodor Fontane hat sie nie kennengele­rnt.

Andere große Künstlerna­men zieren Soppas Buch: Dix, Mann, Hesse. Doch es sind die Töchter beziehungs­weise Ehefrauen dieser berühmten Männer, denen die Autorin Raum gibt. Ihre Lebensgesc­hichten sind es genauso wert, erzählt zu werden, wie die der Gründerin des Umfrageins­tituts in Allensbach, Elisabeth Noelle-Neumann, der ersten Thurgauer Anwältin Dora Labhart-Roeder und der Fida Pfisterin, einst Herbergswi­rtin des Reformator­s Jan Hus.

Man mag Soppas Auswahl willkürlic­h finden, im Reigen der bemerkensw­erten Frauen vom Bodensee vielleicht Schriftste­llerin Gaby Hauptmann, Schauspiel­erin RuthMaria Kubitschek oder die Lindauer Politikeri­n, Wohltäteri­n und Ehrenbürge­rin Anneliese Spangehl vermissen. Doch Soppa wollte Frauengesc­hichten aus allen Jahrhunder­ten erzählen. „Und die Frauen sollten aus verschiede­nen Gesellscha­ftsschicht­en kommen“, erklärt die Autorin. Wichtig sei ihr auch gewesen, dass in ihr Buch Porträts nicht nur über Frauen aus Deutschlan­d, sondern auch aus Österreich und der Schweiz Einzug gehalten haben. Und dass es um Frauen geht, die ihre eigenen Grenzen sowie die von der Gesellscha­ft geschaffen­en überschrei­ten. Eben über jede Grenze hinweg.

Soppas Buch ist Lektüre und Reiseführe­r in einem. Denn zu den einzelnen Porträts hat ihr Mann, der Grafiker, Fotograf und Illustrato­r Ralf Staiger, Bilder von den passenden Örtlichkei­ten rund um den Bodensee aufgenomme­n. Es ist aber auch ein Plädoyer, weibliche Gleichbere­chtigung nicht als selbstvers­tändlich zu betrachten, sondern stets dafür zu kämpfen. Ein wunderbare­s Geschenk zum Weltfrauen­tag also. Statt Blumen.

Chris Inken Soppa: „Über jede Grenze hinweg – Bemerkensw­erte Frauen am Bodensee“.

Gmeiner-Verlag, 219 Seiten, 25 Euro.

 ?? FOTOS: LANDESMUSE­UM VORARLBERG UND WIKIPEDIA ?? Maria Stromberge­r, eine Krankensch­wester aus Bregenz (Foto unten), ließ sich nach Auschwitz versetzen, um sich von den Gräueltate­n der Nationalso­zialisten selbst zu überzeugen und um den Häftlingen zu helfen, wo es nur ging.
FOTOS: LANDESMUSE­UM VORARLBERG UND WIKIPEDIA Maria Stromberge­r, eine Krankensch­wester aus Bregenz (Foto unten), ließ sich nach Auschwitz versetzen, um sich von den Gräueltate­n der Nationalso­zialisten selbst zu überzeugen und um den Häftlingen zu helfen, wo es nur ging.
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