Zur Heldin geboren
Ein neues Buch stellt bemerkenswerte Frauen am Bodensee vor – Nicht nur eine interessante Lektüre, sondern auch ein Plädoyer dafür, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen
Die Klagen sind laut und stoßen alle ins gleiche Horn: Corona hat die Gleichstellung von Männern und Frauen um Jahre zurückgeworfen. Stimmt leider. Statistiken zeigen, dass es während der Pandemie vor allem die Frauen sind, die neben ihrer Tätigkeit im Homeoffice noch die Betreuung und das Homeschooling der Kinder übernommen haben. Mütter arbeiten im Vor-Corona-Vergleich in geringerem Umfang als Väter oder verlagern ihre Arbeitszeit häufiger auf den Abend oder das Wochenende, so zeigen es nicht nur die Zahlen des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und des Instituts für Arbeitsmarkt. Das in Deutschland vorherrschende, traditionelle Rollenverständnis habe dazu geführt, dass die meiste Arbeit in Sachen Homeschooling und Kinderbetreuung während der Lockdowns an den Frauen hängen blieb, sagte jüngst auch die Sozialwissenschaftlerin Mine Kühn vom Max-PlanckInstitut für demografische Forschung in Rostock.
Auch in Sachen mangelnde Gleichberechtigung war Corona also ein Brandbeschleuniger. Doch das Feuer lässt sich nicht löschen, indem Frauen nur unablässig über die Umstände lamentieren und die noch immer überwiegend von Männern dominierte Welt bejammern. Am kommenden Dienstag ist der Internationale Weltfrauentag. Und so regelmäßig wie der Frühling dem Winter folgt, so regelmäßig wird dann die Forderung gestellt: „Wir wollen Gleichberechtigung und keine Blumen!“Es tut schon in den Ohren weh. Denn Parolen alleine helfen nicht wirklich. Da nützt es auch nichts, sie Jahr für Jahr zu wiederholen. Die Gesellschaft und ihre Einstellung müssen sich ändern. Und wir Frauen müssen vehementer zur Tat schreiten. Es gibt Bestrebungen, den Weltfrauentag in „Frauenkampftag“umzubenennen. Genau dort gilt es anzusetzen. Denn trotz aller von Männern geschaffenen Ungerechtigkeiten und aller Umstände, für die niemand etwas kann, sollten wir es halten wie Hedwig Dohm, Frauenrechtlerin des 19. Jahrhunderts, die einst sagte: „Glaube nicht, es muss so sein, weil es nie anders war. Unmöglichkeiten sind Ausflüchte für sterile Gehirne. Schaffe Möglichkeiten!“
Leichter gesagt als getan? Vielleicht hilft ein Blick in das vor Kurzem erschienene Buch „Über jede Grenze hinweg – Bemerkenswerte Frauen am Bodensee“. Autorin und Journalistin Chris Inken Soppa, die in Friedrichshafen aufgewachsen ist und heute mit ihrem Mann in Konstanz lebt, porträtiert darin 44 bekannte und weniger bekannte Heldinnen, die rund um den See gelebt haben oder noch heute leben.
Soppa spannt ihren Bogen von der Jungsteinzeit bis ins Heute. Natürlich fehlen in ihrer Auswahl weder die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff noch MainauManagerin Sonja Gräfin Bernadotte noch Kaisermutter Hortense de Beauharnais. Doch es sind viel eher die Frauen aus den sogenannten einfachen Verhältnissen, deren Lebensgeschichten faszinieren und im besten Fall das eigene Handeln überdenken lassen. Frauen, die Mut machen, das Schicksal endlich selbst in die Hand zu nehmen. Denn heute viel mehr als früher lässt sich über jede Frau sagen: Wer sie ist, das bestimmt sie selbst.
Töchter aus liberalen Elternhäusern wurden in den vorangegangenen Jahrhunderten eher gefördert und wertgeschätzt. Eine Erkenntnis nach der Lektüre des Sachbuchs lautet aber auch: Aus den unteren Gesellschaftsschichten gingen genauso mitreißende weibliche Persönlichkeiten hervor, die mit Mut und Engagement die Welt positiv veränderten. Dazu zählt beispielsweise Maria Stromberger aus Bregenz, die von dem österreichischen Politiker Harald Walser den Beinamen „Engel von Auschwitz“
erhielt. Im Sanatorium Mehrerau bei Bregenz hatte sie sich Ende der 1930er-Jahre zur Krankenschwester ausbilden lassen. Gerüchte und Nachrichten über die Judenverfolgung und Konzentrationslager verstörten sie zusehens. Die tiefgläubige Katholikin meldete sich freiwillig zum Dienst in Polen, weil sie die Wahrheit herausfinden und vielleicht „etwas Gutes“tun wollte. Tatsächlich wurde sie ins KZ Auschwitz versetzt, wo sie den Häftlingen half, wie sie nur konnte. Maria Stromberger versorgte sie mit Nahrung und Medikamenten, schmuggelte Waffen ins Lager, stand Typhuskranken bei. Durch ihr mutiges Handeln geriet die Österreicherin immer wieder in Gefahr. Im Winter 1944/45 erkrankte sie selbst schwer. Zurück in Bregenz wurde sie nach dem Krieg von den französischen Besatzern verhaftet. Man warf ihr vor, in Auschwitz Todesspritzen verabreicht zu haben. Doch einige ehemalige Häftlinge setzten sich für den „Engel von Auschwitz“ein. Maria Stromberger wurde nach sechs Monaten aus der Haft entlassen. Im Frühjahr 1947 reiste sie nach Warschau, um dort gegen den ehemaligen Lagerkommandanten Rudolf Höss auszusagen. Nach den Erlebnissen in Auschwitz war es ihr nach eigenem Bekunden nicht mehr möglich, als Krankenschwester zu arbeiten. Die psychische Belastung wog zu schwer. Jahrelang lebte sie still und zurückgezogen in Bregenz, bis zu ihrem Tod 1957. Sie wurde nicht einmal 60 Jahre alt. Kaum jemand kannte in Bregenz die Geschichte dieser mutigen Frau.
Erst 2002 wurde im Rahmen der Gedenkroute „Widerstand und Verfolgung 1938-45 in Bregenz“ein Weg nach ihr benannt.
Zu deutlich größerer Bekanntheit schaffte es die Fischerin vom Bodensee. Auch sie darf selbstverständlich in Soppas Buch nicht fehlen. Nein, damit ist nicht die junge Frau gemeint, die durch Schlager und Heimatfilm berühmt geworden ist und so prächtig ins romantische Klischeebild vom weißen Schwan, vom See und seinen Schönheiten passt. Soppa besuchte für ihre Recherchen Frieda Meier in Konstanz-Egg, die tatsächlich die erste Berufsfischerin vom Bodensee war. Ihr Schicksal ist typisch für die Nachkriegszeit, da sie ihrem Vater nur helfen durfte, weil beide Brüder es nicht konnten:
Der eine ist im Krieg gestorben, der andere war körperlich nicht dazu in der Lage. Und Frieda konnte schwimmen, ein lebenswichtiger Vorteil.
Das Lied von der Fischerin hat mit Frieda Meiers Alltag wenig zu tun, der hart war. Pro Tag musste das mit Steinen beschwerte Netz bis zu 40-mal ausgelegt werden. Das Einholen war noch kräftezehrender. Viel mehr als unter den körperlichen Strapazen aber litt die junge Frau unter der mangelnden Anerkennung ihrer männlichen Kollegen und deren plumper Anmache. Heute würde man das wohl als Mobbing und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz bezeichnen. 1958 fuhr Frieda zum letzten Mal auf den See hinaus. Kurz zuvor hatte sie sich zwei teure Perlonnetze gekauft, 1000 Mark das Stück. Doch gleich beim ersten Fischzug wurden Frieda die Netze gestohlen. Ein finanzieller Verlust, der das Ende für die erste Fischerin vom Bodensee bedeutete.
Den Heimatfilm, der 1956 in die Kinos kam und für dessen Hauptrolle sie wohl das Vorbild war, kritisiert Meier als kitschige Liebesschnulze, die mit dem Alltag der Fischer nichts zu tun habe. Auch in anderen Belangen hält Frieda Meier mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg, zum Beispiel wenn es um Massentierhaltung oder Aquakulturen geht. Über ihr Porträt in Soppas Buch sagt die heute fast 87-Jährige allerdings zustimmend: „Das hat mich unheimlich gefreut.“
Noch eine Dritte im Bunde der 44 bemerkenswerten Frauen vom Bodensee sei vorgestellt: Elisabeth von Plotho – die wahre Effi Briest, die von 1853 bis 1952 gelebt hat, ab 1918 in Lindau. Sie gilt als das Vorbild für Theodor Fontanes Romanfigur Effi Briest, die mit einem deutlich älteren Mann verheiratet wurde, eine Affäre begann und am Tod ihres Geliebten und der Trennung von ihrer Tochter zerbrach. Hier allerdings unterscheidet sich das Leben von Effi und Elisabeth. Nachdem ihr Ehemann ihren Liebhaber bei einem Duell in Berlin erschossen hatte und die Familie – brandenburgischer Uradel – jeglichen Umgang mit Elisabeth fortan ablehnte, packte die 34-Jährige ein neues Leben an, siedelte nach Süddeutschland um, wo sie sich zur Krankenschwester ausbilden ließ. Um den Wirren des Ersten Weltkriegs zu entgehen, zog die junge Frau in eine Villa in Lindau. Mit den Jahren gelang es ihr, wieder Kontakt zu ihrer Familie aufzubauen, und bis zu ihrem Tod 1952 wurde sie von ihren Kindern und Enkeln umsorgt. Von Effi Briest wird sie sicher gehört haben, in ihren Lebenserinnerungen hat sie sich jedoch kein einziges Mal zu ihrem literarischen Alter Ego geäußert. Auch Theodor Fontane hat sie nie kennengelernt.
Andere große Künstlernamen zieren Soppas Buch: Dix, Mann, Hesse. Doch es sind die Töchter beziehungsweise Ehefrauen dieser berühmten Männer, denen die Autorin Raum gibt. Ihre Lebensgeschichten sind es genauso wert, erzählt zu werden, wie die der Gründerin des Umfrageinstituts in Allensbach, Elisabeth Noelle-Neumann, der ersten Thurgauer Anwältin Dora Labhart-Roeder und der Fida Pfisterin, einst Herbergswirtin des Reformators Jan Hus.
Man mag Soppas Auswahl willkürlich finden, im Reigen der bemerkenswerten Frauen vom Bodensee vielleicht Schriftstellerin Gaby Hauptmann, Schauspielerin RuthMaria Kubitschek oder die Lindauer Politikerin, Wohltäterin und Ehrenbürgerin Anneliese Spangehl vermissen. Doch Soppa wollte Frauengeschichten aus allen Jahrhunderten erzählen. „Und die Frauen sollten aus verschiedenen Gesellschaftsschichten kommen“, erklärt die Autorin. Wichtig sei ihr auch gewesen, dass in ihr Buch Porträts nicht nur über Frauen aus Deutschland, sondern auch aus Österreich und der Schweiz Einzug gehalten haben. Und dass es um Frauen geht, die ihre eigenen Grenzen sowie die von der Gesellschaft geschaffenen überschreiten. Eben über jede Grenze hinweg.
Soppas Buch ist Lektüre und Reiseführer in einem. Denn zu den einzelnen Porträts hat ihr Mann, der Grafiker, Fotograf und Illustrator Ralf Staiger, Bilder von den passenden Örtlichkeiten rund um den Bodensee aufgenommen. Es ist aber auch ein Plädoyer, weibliche Gleichberechtigung nicht als selbstverständlich zu betrachten, sondern stets dafür zu kämpfen. Ein wunderbares Geschenk zum Weltfrauentag also. Statt Blumen.
Chris Inken Soppa: „Über jede Grenze hinweg – Bemerkenswerte Frauen am Bodensee“.
Gmeiner-Verlag, 219 Seiten, 25 Euro.