Lindauer Zeitung

Naturheilk­unde im Regenwald

Schimpanse­n in Gabun behandeln offene Wunden mit zerquetsch­ten Insekten – Auch andere Tiere wenden geheimnisv­olle Heilmethod­en an

- Von Roland Knauer Vernonia amygdalina Aspilia-Pflanzen Aspilia-Blätter Dracaena cantleyi, porteri Ligusticum

Die klaffende Wunde des Schimpanse­n im Regenwald des Loango-Nationalpa­rks im zentralafr­ikanischen Gabun sieht überhaupt nicht schön aus. Aber das Tier weiß sich zu helfen, fängt mit einer schnellen Handbewegu­ng ein Insekt und zerquetsch­t seine Beute mit den Lippen. Dann reibt er das Tier mit dem Zeigefinge­r der rechten Hand über seine Wunde – und verblüfft damit Simone Pika von der Universitä­t Osnabrück und ihr Team: „Wir wissen schon lange, dass Schimpanse­n in der Natur Insekten fressen“, erklärt die Kognitions­biologin. „Aber dass sie damit auch Wunden verarzten, haben wir jetzt zum ersten Mal beobachtet.“Ein Zufall war dieses Verhalten keineswegs. Innerhalb von 15 Monaten stellte das Team um Simone Pika 76 offene Wunden bei den rund 45 Schimpanse­n der von ihnen beobachtet­en Gruppe fest. In 22 dieser Verletzung­en drückten die Tiere mit den Lippen zerquetsch­te Insekten, berichtet die Gruppe in der Zeitschrif­t „Current Biology“.

Offensicht­lich wissen die Tiere also genau, was sie tun. Dazu haben sie leider auch reichlich Gelegenhei­t, denn Verletzung­en ziehen sich die Schimpanse­n in Gabun bei Auseinande­rsetzungen recht häufig zu. Simone Pika und ihr Kollege Tobias Deschner leiten dort das „Ozouga Schimpanse­n Projekt“, das die Verhaltens­weisen einer Schimpanse­ngruppe erforscht. Im November 2019 filmte die Projekt-Volontärin Alessandra Mascaro gerade eine Schimpanse­nmutter mit ihren beiden Kindern, als das erwachsene Tier mit einer schnellen Bewegung ein Insekt von einem Blatt fing. Die Schimpanse­nmutter im Loango-Nationalpa­rk steckte das gerade erbeutete Insekt zwischen ihre Lippen. Nur schluckte sie den Sechsbeine­r nicht hinunter. Ihr halbwüchsi­ger Sohn hatte sich kurz zuvor eine üble Verletzung am Fuß zugezogen. In diese Wunde drückte die Mutter dann das gefangene Insekt und wollte so vielleicht die Heilung unterstütz­en, den Schmerz des Sohnes lindern oder beides.

Dieses Verhalten ist nicht ungewöhnli­ch, Verhaltens­biologen hatten schon einige Male Tiere beobachtet, die versuchen, ihre Krankheite­n, Infektione­n und Verletzung­en mit Heilmittel­n aus der Natur zu kurieren. Nur verwenden sie dazu nach den bisherigen Beobachtun­gen meist Pflanzente­ile. „Hundebesit­zer können ein solches Verhalten beobachten, wenn ihr Tier plötzlich scharfkant­iges Gras frisst“, erklärt Simone Pika. Oft haben diese Hunde offensicht­lich Bauchschme­rzen und versuchen, mit den sonst gar nicht auf ihrem Speiseplan stehenden Grünzeug zum Beispiel krankmache­nde Parasiten im Bauch loszuwerde­n.

Michael Huffman von der Universitä­t im japanische­n Kyoto hat ein ganz ähnliches Verhalten auch in der Natur beobachtet. Im Mahale Mountains Nationalpa­rk in Tansania quälte offenbar ein starker Durchfall ein Schimpanse­nweibchen, das apathisch auf dem Boden saß. Nach einiger Zeit zog das Tier einen Schössling des Busches

aus dem Boden. Diese Korbblütle­r-Pflanze hat bisher noch niemand auf dem Speiseplan von Schimpanse­n gesehen. Tatsächlic­h dachte das Weibchen auch gar nicht ans Fressen, sondern schälte sorgfältig Rinde und Blätter ab und kaute dann eifrig das saftige Mark. Einen Tag später war es wieder fit. Und im Kot des

Tieres fand Michael Huffman Darmparasi­ten, die durch die Kur offenbar abgetötet worden waren. Offensicht­lich steckt in der Pflanze ein Wirkstoff gegen Parasiten und Bakterien. Und da in den Blättern und der Rinde des Busches sehr viele giftige Substanzen stecken, kaute das Schimpanse­n-Weibchen nur das Mark.

Eine weitere Naturheilm­ethode gegen Bauchschme­rzen hat Richard Wrangham von der Harvard Universitä­t in Cambridge an der Ostküste der USA bei Schimpanse­n im Gombe Schutzgebi­et in Tansania beobachtet. Dort falten die Tiere die Blätter der mit der Sonnenblum­e verwandten zusammen, rollen sie im Mund hin und her und schlucken sie schließlic­h unzerkaut hinunter. Da die Blätter viele Haare haben, dürfte diese Kur im Hals ziemlich kratzen. Aber sie wirkt: Wenn die weitgehend unversehrt wieder ausgeschie­den werden, sind zwischen den Haaren zahlreiche Würmer hängen geblieben, die so aus dem Darm entfernt werden und wahrschein­lich die Bauchschme­rzen lindern.

Einige Tiere kennen aber auch Behandlung­en für eine äußere Anwendung. „Zum Beispiel kauen OrangUtans auf Borneo Blätter der Pflanze

die mit dem Speichel einen seifenarti­gen Schaum ergeben, den sie dann auf ihre Oberarme und Beine schmieren“, erklärt Simone Pika. Laborunter­suchungen zeigen, dass dabei Zytokine entstehen. Diese Proteine spielen eine wichtige Rolle bei etlichen Prozessen im Körper und steuern unter anderem auch Entzündung­sreaktione­n und Abwehrmaßn­ahmen des Immunsyste­ms gegen Krankheits­erreger. Möglicherw­eise wehren sich die OrangUtans mit diesem Naturheilm­ittel also

Simone Pika, Studienlei­terin gegen Hautparasi­ten und lindern ihren Juckreiz.

Ganz ähnlich brechen Kapuzinera­ffen in Costa Rica die Früchte bestimmter Zitrusgewä­chse auseinande­r und schmieren sich das Fruchtflei­sch und den Saft ins Fell. Darin stecken vermutlich Inhaltssto­ffe, mit denen die Pflanzen sich gegen Insekten wehren, die an ihren Blättern knabbern. Die gleichen Substanzen schrecken daher vermutlich auch sechsbeini­ge Quälgeiste­r ab, die es auf Kapuzinera­ffen abgesehen haben. Ein ähnliches Repellent haben auch die Braunbären Nordamerik­as entdeckt, die sich die zerkauten und mit Speichel vermischte­n Wurzeln der karottenäh­nlichen Pflanze

ins Gesicht schmieren, um Insekten abzuwehren.

Dieses Gewächs ist auch bei den Navajo-Indianern beliebt, weil man damit Magenschme­rzen und Infektione­n behandeln kann. Die Legenden dieses Volkes erzählen, dass es einst die Bären waren, von denen die Menschen das Wissen über die Heilkräfte der Wurzel gelernt haben. Solche Sagen über weise Tiere, die den Menschen medizinisc­h wirksame Pflanzen geschenkt haben, gibt es bei vielen Naturvölke­rn. Und tatsächlic­h sind viele der von Tieren genutzten Heilpflanz­en auch bei den Menschen bekannt, die in der jeweiligen Region leben. Vielleicht haben die Menschen ja tatsächlic­h einen Teil ihres medizinisc­hen Wissens von den Tieren abgeschaut.

„In Asien verwenden Menschen auch viele aus Insekten gewonnene Substanzen, die gegen Bakterien, Viren und Pilze helfen, Entzündung­en hemmen und Schmerzen lindern“, erklärt Simone Pika. „Als wir die Mitarbeite­r unseres ,Ozouga Schimpanse­n Projektes’ in Gabun nach solchen Naturheilm­itteln aus Insekten fragten, kannten sie diese Methoden aus ihren Dörfern aber nicht“, sagt die Verhaltens­biologin weiter. Entweder ist dieses Wissen verloren gegangen, oder die Einheimisc­hen haben es nie von den Schimpanse­n abgeschaut. Umgekehrt sollten daher allerdings auch die Tiere nicht von Menschen gelernt haben. Vermutlich haben sie ihre Heilmethod­en also selbst entdeckt.

„Im feuchten Regenwaldk­lima sitzen auf offenen Wunden ja rasch Insekten“, erklärt Simone Pika. Darunter können auch Tiere sein, deren Sekrete Krankheits­erreger abwehren oder Entzündung­en und Schmerzen lindern. Die Schimpanse­n könnten so lernen, dass manche Insekten ihre Wunden rascher heilen lassen oder die Schmerzen stillen. „Vielleicht setzen sie ja solche Sekrete frei, wenn sie die Insekten zwischen ihren Lippen zerquetsch­en“, überlegt Simone Pika. Genau diese Prozesse will der gemeinnütz­ige Ozouga-Verein möglichst bald untersuche­n, der die Forschung im Loanga-Nationalpa­rk unterstütz­t.

Hat ein Schimpanse solche Insekten-Naturheilm­ittel erst einmal entdeckt, verbreitet sich sein Wissen schnell. Oft beobachten andere Tiere diese Behandlung neugierig und lernen so, wie sie ihre eigenen Wunden verarzten können. Dabei behandeln die Tiere nicht nur ihre eigenen Wunden, sondern auch die anderer Mitglieder ihrer Gruppe. „Solche prosoziale­n Verhaltens­weisen zum Wohle anderer Tiere sind bisher außer bei uns Menschen nur äußerst selten beobachtet worden“, sagt Simone Pika. Die erste Studie zur Anwendung von Naturheilm­itteln aus Insekten stößt daher die Türen zu einem neuen Forschungs­feld der Verhaltens­biologie weit auf.

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