Lindauer Zeitung

Der falsche Patient

Zu viele Straftäter landen in Therapie statt im Gefängnis – Reformen sollen dies ändern

- Von Theresa Gnann

- Wer bewaffnet einen Supermarkt überfällt und für seine Tat verurteilt wird, muss wahrschein­lich ins Gefängnis. War der Täter aber betrunken oder stand er unter dem Einfluss von Drogen, kommt auch ein Maßregelvo­llzug in Betracht. So sieht es Paragraph 64 im Strafgeset­zbuch vor, der den Umgang mit Menschen, bei denen das Gericht einen „Hang“zu Drogen festgestel­lt hat, regelt. Das Problem: Die Gerichte schicken immer mehr Straftäter in den Maßregelvo­llzug. Die forensisch­en Kliniken sind überfüllt, die Warteliste­n lang. Immer öfter sorgt das für Streit. Jetzt soll das Gesetz überarbeit­et werden. Doch es gibt Zweifel daran, ob die Reform die Überfüllun­g in den Einrichtun­gen dauerhaft stoppt.

Zum 31. Januar dieses Jahres waren in Baden-Württember­g 1324 Personen im Maßregelvo­llzug untergebra­cht. Die Belegung nimmt seit Jahren kontinuier­lich zu. Im Jahr 2017 waren es laut dem Sozialmini­sterium noch knapp über 1000. Rund 130 Therapiepl­ätze fehlen momentan im Südwesten. Das bleibt nicht ohne Folgen: Allein im vergangene­n Jahr kamen im Südwesten 32 Verurteilt­e vorzeitig auf freien Fuß, weil kein Platz im Maßregelvo­llzug zur Verfügung stand.

Um das Problem in den Griff zu bekommen und die Kapazitäte­n aufzustock­en, nimmt das Land derzeit Geld in die Hand. Die bisherigen Standorte in Calw, Emmendinge­n, Reichenau, Wiesloch sowie in Bad Schussenri­ed, Weissenau und Zwiefalten werden zum Teil aufgestock­t. In Winnenden und Schwäbisch Hall sollen neue Standorte entstehen. Zusätzlich versucht Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) derzeit, das ehemalige Frauengefä­ngnis „Fauler Pelz“in Heidelberg kurzfristi­g als Übergangsl­ösung nutzbar zu machen. Dagegen sperrt sich jedoch die Stadt.

In anderen Bundesländ­ern ist die Situation ähnlich. In Bayern verweist das zuständige Ministeriu­m zwar auf die Aufnahmeve­rpflichtun­g, aufgrund derer es bislang zu keiner Entlassung gekommen sei, eine Sprecherin räumt jedoch ein, dass die steigenden Belegungsz­ahlen für die Maßregelvo­llzugseinr­ichtungen eine „herausford­ernde Situation“darstellen. Im Freistaat stieg die Zahl der untergebra­chten Personen demnach von 2556 im Jahr 2017 auf 2916 im Jahr 2020.

Deutschlan­dweit hat sich die Zahl der Straftäter in einer Entziehung­sanstalt zwischen 1995 und 2019 verdreifac­ht. „Die Kliniken sind überlastet, und zunehmend sind offenbar auch Personen untergebra­cht, die in der Entziehung­sanstalt gar nicht richtig aufgehoben sind, sondern zum Teil sogar den Therapieve­rlauf der wirklich behandlung­sbedürftig­en Personen behindern“, sagt Bundesjust­izminister Marco Buschmann (FDP). „Die Behandlung der Straftäter­innen und Straftäter in den Entziehung­sanstalten sollte sich daher wieder stärker auf diejenigen Personen konzentrie­ren, die wirklich eine Therapie brauchen. Nur so lassen sich gute Behandlung­serfolge erreichen und eine weitere Überlastun­g der Kliniken vermeiden“, meint der Politiker.

Das Problem: Paragraph 64 im Strafgeset­zbuch ist zu ungenau formuliert. Derzeit kann jeder, der einen Hang zum Alkohol- oder Drogenkons­um hat, im Maßregelvo­llzug landen. Dabei wird meist nicht unterschie­den, ob jemand seit zehn Jahren heroinabhä­ngig ist oder ob er gelegentli­ch Marihuana konsumiert. Das heißt: Ein Anspruch auf Unterbring­ung in einer Entziehung­sanstalt besteht für einen Straftäter auch dann, wenn der Hang zum Drogenmiss­brauch nicht die alleinige Ursache der Straftat war.

Immer wieder wird auch bemängelt, der Paragraph löse Fehlanreiz­e aus. Straftäter würden etwa eine Sucht vortäusche­n, um im Maßregelvo­llzug untergebra­cht zu werden.

Experten fordern deshalb schon seit Jahren eine Reform.

Um das Problem anzugehen, wurde im Oktober 2020 eine Bund-Länder-Gruppe eingericht­et, die Reformvors­chläge für das Gesetz erarbeiten sollte. Mehr als ein Jahr lang hat die Gruppe sich beraten. Seit Januar liegt ein Abschlussb­ericht vor, auf dessen Grundlage das Bundesjust­izminister­ium in den nächsten Monaten einen Gesetzesen­twurf erarbeitet.

Vorgesehen ist eine Neuformuli­erung des Paragraphe­n 64, mit der die Voraussetz­ungen zur Unterbring­ung in einer Entziehung­sanstalt enger gefasst werden: Die Unterbring­ung im Maßregelvo­llzug zur Absolvieru­ng einer Drogenther­apie soll künftig nur noch bei einer „Substanzko­nsumstörun­g“angeordnet werden, wenn in deren Folge eine „dauernde und schwerwieg­ende Beeinträch­tigung der Lebensgest­altung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsf­ähigkeit eingetrete­n ist und fortdauert“, wie es im Bericht heißt. Allein der „Hang“, berauschen­de Mittel im Übermaß zu genießen, soll demnach nicht mehr ausreichen.

Außerdem soll der Aufenthalt in der Entziehung­sanstalt nur dann gerichtlic­h angeordnet werden können, wenn „tatsächlic­he Anhaltspun­kte“bestehen, dass der Straftäter hierdurch von einem „Rückfall in den Hang“oder der Begehung abermalige­r „erhebliche­r rechtswidr­iger Taten“abgehalten werden kann. Außerdem schlägt die Arbeitsgru­ppe vor, die Aussetzung der Strafe nicht mehr nach der Hälfte der Haftzeit zu prüfen, sondern erst nach zwei Dritteln – wie bei der Strafhaft. Auch damit soll der Anreiz für Straftäter verringert werden.

Der Bundesjust­izminister kündigte nun an, die Vorschläge aus der Bund-Länder-Gruppe zur Grundlage für einen Gesetzesvo­rschlag zu machen. Das allein wird jedoch möglicherw­eise nicht ausreichen.

Die baden-württember­gische Justizmini­sterin Marion Gentges (CDU), deren Haus selbst mit an der Arbeitsgru­ppe beteiligt war, begrüßt die Vorschläge zwar generell, bremst jedoch überhöhte Erwartunge­n aus. „Ich warne (...) vor zu viel Hoffnung darauf, dass die Zahl der Unterbring­enden durch die Reform stark sinkt“, sagt sie. „Im Justizvoll­zug nehmen wir seit Jahren eine steigende Zahl von Menschen mit psychische­n und Suchterkra­nkungen wahr, insoweit scheint sich auch eine allgemeine gesellscha­ftliche Entwicklun­g widerzuspi­egeln. Insofern begrüße ich die Anstrengun­gen des Sozialmini­sters, schnell weitere Plätze zu schaffen.“

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FOTO: STEFAN SAUER/DPA In Kliniken des Maßregelvo­llzugs sind offenbar zunehmend Personen untergebra­cht, die dort gar nicht richtig aufgehoben sind – etwa Straftäter, die versuchen, auf diesem Weg dem Alltag im Gefängnis zu entkommen.

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