Der falsche Patient
Zu viele Straftäter landen in Therapie statt im Gefängnis – Reformen sollen dies ändern
- Wer bewaffnet einen Supermarkt überfällt und für seine Tat verurteilt wird, muss wahrscheinlich ins Gefängnis. War der Täter aber betrunken oder stand er unter dem Einfluss von Drogen, kommt auch ein Maßregelvollzug in Betracht. So sieht es Paragraph 64 im Strafgesetzbuch vor, der den Umgang mit Menschen, bei denen das Gericht einen „Hang“zu Drogen festgestellt hat, regelt. Das Problem: Die Gerichte schicken immer mehr Straftäter in den Maßregelvollzug. Die forensischen Kliniken sind überfüllt, die Wartelisten lang. Immer öfter sorgt das für Streit. Jetzt soll das Gesetz überarbeitet werden. Doch es gibt Zweifel daran, ob die Reform die Überfüllung in den Einrichtungen dauerhaft stoppt.
Zum 31. Januar dieses Jahres waren in Baden-Württemberg 1324 Personen im Maßregelvollzug untergebracht. Die Belegung nimmt seit Jahren kontinuierlich zu. Im Jahr 2017 waren es laut dem Sozialministerium noch knapp über 1000. Rund 130 Therapieplätze fehlen momentan im Südwesten. Das bleibt nicht ohne Folgen: Allein im vergangenen Jahr kamen im Südwesten 32 Verurteilte vorzeitig auf freien Fuß, weil kein Platz im Maßregelvollzug zur Verfügung stand.
Um das Problem in den Griff zu bekommen und die Kapazitäten aufzustocken, nimmt das Land derzeit Geld in die Hand. Die bisherigen Standorte in Calw, Emmendingen, Reichenau, Wiesloch sowie in Bad Schussenried, Weissenau und Zwiefalten werden zum Teil aufgestockt. In Winnenden und Schwäbisch Hall sollen neue Standorte entstehen. Zusätzlich versucht Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) derzeit, das ehemalige Frauengefängnis „Fauler Pelz“in Heidelberg kurzfristig als Übergangslösung nutzbar zu machen. Dagegen sperrt sich jedoch die Stadt.
In anderen Bundesländern ist die Situation ähnlich. In Bayern verweist das zuständige Ministerium zwar auf die Aufnahmeverpflichtung, aufgrund derer es bislang zu keiner Entlassung gekommen sei, eine Sprecherin räumt jedoch ein, dass die steigenden Belegungszahlen für die Maßregelvollzugseinrichtungen eine „herausfordernde Situation“darstellen. Im Freistaat stieg die Zahl der untergebrachten Personen demnach von 2556 im Jahr 2017 auf 2916 im Jahr 2020.
Deutschlandweit hat sich die Zahl der Straftäter in einer Entziehungsanstalt zwischen 1995 und 2019 verdreifacht. „Die Kliniken sind überlastet, und zunehmend sind offenbar auch Personen untergebracht, die in der Entziehungsanstalt gar nicht richtig aufgehoben sind, sondern zum Teil sogar den Therapieverlauf der wirklich behandlungsbedürftigen Personen behindern“, sagt Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). „Die Behandlung der Straftäterinnen und Straftäter in den Entziehungsanstalten sollte sich daher wieder stärker auf diejenigen Personen konzentrieren, die wirklich eine Therapie brauchen. Nur so lassen sich gute Behandlungserfolge erreichen und eine weitere Überlastung der Kliniken vermeiden“, meint der Politiker.
Das Problem: Paragraph 64 im Strafgesetzbuch ist zu ungenau formuliert. Derzeit kann jeder, der einen Hang zum Alkohol- oder Drogenkonsum hat, im Maßregelvollzug landen. Dabei wird meist nicht unterschieden, ob jemand seit zehn Jahren heroinabhängig ist oder ob er gelegentlich Marihuana konsumiert. Das heißt: Ein Anspruch auf Unterbringung in einer Entziehungsanstalt besteht für einen Straftäter auch dann, wenn der Hang zum Drogenmissbrauch nicht die alleinige Ursache der Straftat war.
Immer wieder wird auch bemängelt, der Paragraph löse Fehlanreize aus. Straftäter würden etwa eine Sucht vortäuschen, um im Maßregelvollzug untergebracht zu werden.
Experten fordern deshalb schon seit Jahren eine Reform.
Um das Problem anzugehen, wurde im Oktober 2020 eine Bund-Länder-Gruppe eingerichtet, die Reformvorschläge für das Gesetz erarbeiten sollte. Mehr als ein Jahr lang hat die Gruppe sich beraten. Seit Januar liegt ein Abschlussbericht vor, auf dessen Grundlage das Bundesjustizministerium in den nächsten Monaten einen Gesetzesentwurf erarbeitet.
Vorgesehen ist eine Neuformulierung des Paragraphen 64, mit der die Voraussetzungen zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt enger gefasst werden: Die Unterbringung im Maßregelvollzug zur Absolvierung einer Drogentherapie soll künftig nur noch bei einer „Substanzkonsumstörung“angeordnet werden, wenn in deren Folge eine „dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert“, wie es im Bericht heißt. Allein der „Hang“, berauschende Mittel im Übermaß zu genießen, soll demnach nicht mehr ausreichen.
Außerdem soll der Aufenthalt in der Entziehungsanstalt nur dann gerichtlich angeordnet werden können, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte“bestehen, dass der Straftäter hierdurch von einem „Rückfall in den Hang“oder der Begehung abermaliger „erheblicher rechtswidriger Taten“abgehalten werden kann. Außerdem schlägt die Arbeitsgruppe vor, die Aussetzung der Strafe nicht mehr nach der Hälfte der Haftzeit zu prüfen, sondern erst nach zwei Dritteln – wie bei der Strafhaft. Auch damit soll der Anreiz für Straftäter verringert werden.
Der Bundesjustizminister kündigte nun an, die Vorschläge aus der Bund-Länder-Gruppe zur Grundlage für einen Gesetzesvorschlag zu machen. Das allein wird jedoch möglicherweise nicht ausreichen.
Die baden-württembergische Justizministerin Marion Gentges (CDU), deren Haus selbst mit an der Arbeitsgruppe beteiligt war, begrüßt die Vorschläge zwar generell, bremst jedoch überhöhte Erwartungen aus. „Ich warne (...) vor zu viel Hoffnung darauf, dass die Zahl der Unterbringenden durch die Reform stark sinkt“, sagt sie. „Im Justizvollzug nehmen wir seit Jahren eine steigende Zahl von Menschen mit psychischen und Suchterkrankungen wahr, insoweit scheint sich auch eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung widerzuspiegeln. Insofern begrüße ich die Anstrengungen des Sozialministers, schnell weitere Plätze zu schaffen.“