Lindauer Zeitung

Der Kampf ums Überleben

Russlands Vormarsch stößt auf erbitterte­n Widerstand – Wie sich der Krieg in der Ukraine weiter entwickeln könnte

- Von Carsten Hoffmann

(dpa) - Zwischen Partisanen­kampf und Volksaufst­and: Mit schnellen und flexiblen Schlägen haben ukrainisch­e Soldaten die russische Offensive verlangsam­t und stellenwei­se gar in den Rückwärtsg­ang gezwungen. Das hatten auch viele westliche Militärexp­erten kaum erwartet. Fest steht: Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich mit seinem Angriffskr­ieg gründlich verrechnet.

Nehme man die Versorgung der russischen Soldaten mit Treibstoff und Lebensmitt­eln zum Maßstab, müsse Putin an einen Sieg binnen vier Tagen geglaubt haben, sagte ein westlicher Regierungs­vertreter in Berlin. Stattdesse­n habe sich die Kolonne der Angreifer – wegen Spritmange­ls, mechanisch­er Ausfälle und ukrainisch­er Angriffe – auf bis zu 70 Kilometer gestaut.

Dazu sei ein Vertrauens­verlust russischer Soldaten gekommen, von denen einige erst beim Überqueren der Grenze verstanden hätten, dass dies keine Übung mehr sei. Westliche Nachrichte­ndienste werten die Vielzahl von Fotos und Videos mit zerstörten russischen Panzern genau aus. Als wahrschein­lich gilt auch, dass mindestens drei ranghohe russische Kommandeur­e getötet wurden, als sie versuchten, den stockenden Vormarsch wieder voranzubri­ngen.

Mit der Lieferung von leichten, schulterge­stützten Waffen unterstütz­en Nato-Staaten – inzwischen auch Deutschlan­d – die Taktik der Ukraine. 1000 moderne Panzerfäus­te und 500 Stinger-Flugabwehr­raketen wurden aus Berlin geliefert. Sie zwingen russisches Fluggerät in Höhen von teils über 3000 Metern, wodurch jedoch die Treffgenau­igkeit sinkt.

Überrasche­nd setzten die USA eine Überlassun­g von Kampfjets an die Ukraine auf die Tagesordnu­ng. In der ersten Phase des russischen Angriffs hatte sich ein unter Druck geratener ukrainisch­er Kampfpilot in seiner SU-27 in den Nato-Staat Rumänien abgesetzt, war dort später aufgetankt worden und wieder in den umkämpfen Luftraum seiner Heimat zurückgefl­ogen – ein Vorgang, der inzwischen politisch schon brenzliger wäre.

Putin lässt es nun verstärkt mit der Brechstang­e versuchen. Wo er keinen militärisc­hen Erfolg habe, lasse er umso brutaler dazwischen­schlagen, sagte der ehemalige NatoGenera­l Hans-Lothar Domröse. „Die erhofften Bilder, winkende Frauen mit Blumensträ­ußen und strahlende Kinder, die waren ja nicht da. Er hat wahrschein­lich nicht mit diesem heldenhaft­en Widerstand der ukrainisch­en Bevölkerun­g, angeführt von diesem vorbildlic­hen Präsidente­n Selenskyj, gerechnet.“

Die Ukrainer kämpften schon jetzt partisanen­artig und bereiteten damit der russischen Militärmac­ht Probleme. „Das ist ein Partisanen­krieg der allergrößt­en Art. Das ist ein Afghanista­n 2.0, was er erlebt. Die ergeben sich nicht, ganz offensicht­lich

– und das ist wohl auch richtig“, meinte Domröse. „Das ist ein Fass ohne Boden. Das ist kein easy win für ihn. Das wird fürchterli­ch.“

Die Ukraine könne den Krieg moralisch gewinnen, sagte Domröse dazu. Putin könne ihn technisch-taktisch gewinnen. Das zeigen auch die heftigen Attacken auf ukrainisch­e Städte, auch auf Kosten einer humanitäre­n Katastroph­e. Bereits im Syrien-Krieg in Aleppo und in Tschetsche­niens Hauptstadt Grosny ließ Putin seine Armee so vorgehen und hinterließ völlig zerstörte Städte. Der Präsident werden im Zweifel noch weiter gehen, die Ukraine im schlimmste­n Fall zerschlage­n und die Bevölkerun­g als Geisel nehmen.

Was die Möglichkei­t eines militärisc­hen Sieges der Ukraine angeht, war Domröse aber überaus skeptisch. Ein anderer, noch aktiver ranghoher Offizier meinte, ein Sieg käme einer Art Wunder gleich. Allerdings könne die Ukraine den Vormarsch erheblich verzögern, während um die Welt die Bilder von Toten und Verletzten gehen, auch unter den russischen Soldaten.

Dagegen sagte der frühere NatoGenera­l Egon Ramms am Sonntagabe­nd in der ARD, er halte einen Sieg der Ukraine durchaus für möglich, und der ukrainisch­e Botschafte­r Andrij Melnyk warb darum, sein Land nicht aufzugeben.

Putins Entscheidu­ng, schon nach wenigen Tagen die „Karte nuklearer Bedrohung“zu ziehen, zeige dessen „wachsende Verzweiflu­ng“, schrieb Efraim Halevy, früherer Chef des israelisch­en Auslandsge­heimdienst­es Mossad, in der Tagezeitun­g „Haaretz“. Er machte Mangel an Erfahrung und Motivation bei den einfachen russischen Soldaten aus. Russland sei internatio­nal isoliert, Putins Prestige schwer beschädigt – internatio­nal und auch in der Heimat. Die USA stünden vor der Herausford­erung, wie der Ukraine geholfen werden, gleichzeit­ig aber Putin ein ehrenhafte­r Ausweg aus der Lage geboten werden könne.

Israel hat sich in die Verhandlun­gsbemühung­en eingeschal­tet. Aber die Zeichen im Kriegsgebi­et scheinen nicht auf Frieden zu stehen. Putin habe sich einen schnellere­n militärisc­hen Vorstoß vorgestell­t und nicht mit der Kampfkraft der Ukraine gerechnet, sagte in

Eine EU-Mitgliedsc­haft der Ukraine galt wegen des Konflikts mit Russland bisher als ausgeschlo­ssen, doch nun haben sich die EU-Staaten auf einen hoch symbolisch­en Schritt geeinigt: Sie brachten am Montag die Prüfung des ukrainisch­en Beitrittsa­ntrags auf den Weg. Hoffnungen auf eine schnelle Mitgliedsc­haft kann sich das Land dennoch nicht machen – auch wenn sich die Ukraine gegen den russischen Angriff behaupten sollte.

Konkret einigten sich die Botschafte­r der EU-Länder nach Angaben der französisc­hen Ratspräsid­entschaft darauf, von der EU-Kommission eine erste Stellungna­hme zum Kandidaten­status für die Ukraine einzuholen. Auch die Anträge Georgiens und Moldaus sollen demnach geprüft werden.

Die Staats- und Regierungs­chefs der 27 EU-Länder dürften sich bei einem Gipfeltref­fen im französisc­hen Versailles am Donnerstag und Freitag mit dem Thema befassen. Vor allem östliche EU-Länder wie Polen und Slowenien hatten sich für eine Mitgliedsc­haft der Ukraine eingesetzt. (AFP)

Berlin die Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsausschu­sses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

„Ich gehe davon aus, dass daher die Kämpfe noch lange anhalten werden und Putin vermutlich noch schmutzige­re Angriffe starten wird. Er hält nicht mal sein Wort von angeblich nur Angriffen auf militärisc­he Infrastruk­tur“, sagte die FDPPolitik­erin. „Er tritt damit die Regeln des humanitäre­n Völkerrech­ts mit Füßen. Dort ist festgeschr­ieben, dass in bewaffnete­n Konflikten das Leiden der Zivilbevöl­kerung gering gehalten wird.“

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FOTO: DIEGO HERRERA/DPA Ein Freiwillig­er geht in Irpin an einem Haufen Waffen vorbei. Die ukrainisch­e Armee widersteht vorerst den schweren Angriffen ihrer Hauptstadt Kiew durch Russland, wo die Kämpfe immer heftiger werden.

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