Die Pipeline-Diskussion
Stopp von russischen Gas- und Ölimporten gefordert – Aber was passiert, wenn die EU Nord Stream 1 abklemmt?
- Während das russische Militär die ukrainische Hauptstadt Kiew bedrängt, intensiviert sich hierzulande die Debatte über weitere Sanktionen. Die Energieimporte aus Russland stehen dabei im Mittelpunkt ebenso wie die hohen EuroSummen, die täglich zur Bezahlung von West nach Ost fließen und mittelbar den russischen Krieg mitfinanzieren. CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen forderte, die Gas- und Ölimporte aus Russland sofort zu stoppen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) warnte davor. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte eine neues Maßnahmenpaket gegen die Energieabhängigkeit von Russland an. Welche Auswirkungen hätte es, wenn Deutschland und Europa jetzt die Gaspipeline Nord Stream 1 blockieren würden? Ein Überblick.
Welche Bedeutung hat Nord Stream 1?
Die Röhre von Russland nach Deutschland transportiert 30 bis 40 Prozent der Gaslieferungen in die Europäische Union (EU). Die übrigen Mengen fließen durch das sogenannte Ukraine-System und die Jamal-Pipeline über Belarus und Polen.
Wie könnte die russische Regierung reagieren?
Würde die EU Nord Stream 1 abklemmen, fehlten dem russischen Staat sofort Dutzende Millionen Euro täglich – eine empfindliche Einbuße, da seine Devisen vor allem aus dem Verkauf von Rohstoffen stammen. Dies mag Wladimir Putin veranlassen, die übrigen Exporte weiterströmen zu lassen. Andererseits
ANZEIGE könnte er aber auch mit Gegensanktionen antworten und die kompletten Gaslieferungen in die EU einstellen. Das würde zu massiven Schwierigkeiten führen. Mehr als die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Erdgases stammen aus Russland. EU-weit sind es etwa 40 Prozent.
Kann man die Mengen aus Nord Stream 1 ersetzen?
„Die Strategie müsste darin bestehen, fehlende Lieferungen aus Russland durch Importe von Flüssiggas (LNG) zu ersetzen“, sagte Ökonom Malte Küper vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. „Angesichts der vorhandenen LNG-Importkapazitäten in Europa wäre es rein mengenmäßig möglich, die Lieferungen durch Nord Stream 1 aufzufangen.“Probleme dabei: Große zusätzliche Mengen auf dem Weltmarkt zu beschaffen, ist schwierig und teuer. Andererseits gibt es Engpässe bei den Gasleitungen zwischen den Häfen und den Verbrauchern innerhalb Europas. Sascha Müller-Kraenner, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, erklärte: „Die Internationale Energie-Agentur hält es durch ein Bündel von Maßnahmen für möglich, den Gasimport aus Russland innerhalb eines Jahres um ein Drittel zu reduzieren.“
Wie ließe sich der Gasbedarf insgesamt verringern?
Andreas Goldthau, Experte für Geoökonomie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, plädierte für ein „Paket an Maßnahmen“, unter anderem einen „schnellen Ausbau der Wind- und Solarenergie,
Energieeffizienzmaßnahmen und das Ersetzen von Gasheizungen durch Wärmepumpen“. Gerade bei diesem Thema wären „die Potenziale gewaltig“, sagte auch Müller-Kraenner. Seinen Informationen zufolge werden zwar jährlich in Deutschland fast eine Million Heizungen ausgetauscht, allerdings „nur 150 000 Wärmepumpen neu eingebaut“. Diese Anlagen zur Wärmeerzeugung holen die Energie aus dem Boden oder der Luft. Man kann sie mit Ökostrom vom Hausdach betreiben. Ein massives, schnelles Ausbauprogramm müsste die Bundesregierung wohl mit einigen Milliarden Euro fördern. Die öffentliche KfW-Bank würde Zuschüsse und Kredite gewähren.
Könnte die Industrie weniger verbrauchen?
„In der Industrie existieren kurzfristig keine großen Einsparpotenziale“, warnte IW-Forscher Küper. „Soll der Gasverbrauch dort deutlich sinken, wäre das mit Produktionseinschränkungen verbunden.“Küper weist darauf hin, dass wegen der hohen Gaspreise kürzlich schon die Herstellung von Ammoniak in Deutschland zurückging. Bei starken Einschränkungen sind Arbeitsplätze in Gefahr. Der Verband der Gasunternehmen argumentiert, in der Chemieund in der Automobilindustrie lasse sich das russische Erdgas kurzfristig nur schwer ersetzen. Im Verlauf der kommenden 20 Jahren dürfte das anders aussehen – dann soll mit Ökostrom produzierter Wasserstoff das fossile Gas ablösen. Dieser Transformationsprozess dauert allerdings seine Zeit.
Und die privaten Haushalte? Etwa jeder zweite deutsche Haushalt betreibt die Heizung und Warmwasserbereitung mit Gas. Dabei lässt sich einiges sparen. „Die Internationale Energieagentur schätzt, dass bei einer Reduktion von einem Grad Raumtemperatur Einsparungen von zehn Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr europaweit zu erreichen sind“, sagte Geoökonom Goldthau. Das entspricht etwa einem Fünftel der Lieferungen durch Nord Stream 1. Sowieso empfiehlt die DUH, die Thermostate an den Wohnungsheizungen nur bis Stufe drei hochzudrehen, mehr bringe meist nichts. „Sehr viele Heizungen sind zudem nicht optimal eingestellt, hier würde sich ein Effizienzcheck anbieten“, so Müller-Kraenner.
Eine Antwort auf die soziale Frage?
Der Verzicht auf bestimmte russische Gaslieferungen, der Ersatz aus anderen Quellen und die damit verbundene höhere Nachfrage auf dem Weltmarkt führt zu weiter steigenden Preisen. Das bringt wahrscheinlich ein Drittel der deutschen Haushalte, die von eher niedrigen oder mittleren Einkommen leben, in finanzielle Nöte. Schon die bisherigen Preiserhöhungen beim Gas können für Durchschnittshaushalte 70 Euro monatlich erreichen. Daher stellt sich die Frage des sozialen Ausgleichs. „Wir fordern dazu unter anderem einen Heizkostenzuschuss von mindestens durchschnittlich 500 Euro pro Haushalt“, erklärte der Bundesverband der Verbraucherzentralen. „Zweitens muss den Verbrauchern der Kohlendioxidpreis als Pro-Kopf-Pauschale zurückerstattet werden, davon profitieren insbesondere auch die Haushalte mit geringem Einkommen.“