„Jeder von uns hatte Tränen in den Augen“
Lindauer holen Geflüchtete aus der Ukraine aus polnischem Auffanglager ab – Ein Helfer berichtet
- Der Hilfstransport, den der Lindauer Aurel Sommerlad initiiert hatte, ist Sonntagnacht an den Bodensee zurückgekehrt. Insgesamt sind 28 Ukrainerinnen und ihre Kinder und Enkel im Mietwerk, einer Bed-and-Breakfast-Unterkunft, untergekommen. Die Helfer aus Lindau und Wasserburg waren am Freitag mit vier Kleinbussen zur polnischukrainischen Grenze gefahren, um Geflüchtete abzuholen. Zusätzlich hatten sie einen Lastwagen mit Hilfsgütern vorgeschickt.
Die Helfer, die sich nach Sommerlads Aufruf auf Facebook gefunden hatten, sind am Freitag in Richtung Polen gestartet. Über Dresden fuhren sie in den polnischen Ort Korczowa, wo sich acht Kilometer von der ukrainischen Grenze ein großes Auffanglager für Geflüchtete befindet. „Es ist riesig“, sagt Sommerlad. „Es muss ein ehemaliges Logistikzentrum oder ein ehemaliger Einkaufsmarkt sein.“
Vor der Halle sei zu sehen, dass sich noch nicht überall herumgesprochen habe, dass Kleidung nicht mehr benötigt werde. Haufenweise unsortierter Kleidung sei dort einfach abgeladen worden, darunter Sommerkleidung – „dabei braucht das im Moment wirklich niemand“, sagt er.
Die Halle sei voller Menschen, die auf Feldbetten liegen, teils schlafend, teils wach. Überall stünden Feldbetten und Trennwände, man brauche lange, um sich zu orientieren und um einen Info-Punkt zu finden. „Es ist eine humanitäre Katastrophe. Jeder von uns hatte Tränen in den Augen“, sagt der 36-Jährige und beschreibt seine Eindrücke: „Es ist ein Chaos. Kinder schreien und weinen, Mütter stillen ihre Babys, auf dem Boden ist Erbrochenes, man sieht auch Blut, es riecht nach Urin.“Sommerlad beobachtete auch, dass das polnische Militär die Organisation übernahm und für Ruhe sorgte, teils mit unsanften Methoden.
Am Info-Punkt angekommen, machten er und die anderen Helfer ihr Anliegen klar: Menschen wegzubringen von diesem Ort, in Richtung Süddeutschland. Es habe nicht lange gedauert, bis die Fahrzeuge voll waren. „Wir haben Familien mitgenommen“, sagt Aurel Sommerlad,
„hauptsächlich Mütter mit ihren Kindern.“Die Helfer und die Geflüchteten fotografierten gegenseitig ihre Pässe ab, bevor sie in die Transporter einstiegen. Ihnen sei im Prinzip egal gewesen, wohin die Fahrt geht.
Ausgestattet mit Decken und Kissen, damit die Beifahrerinnen und Beifahrer es sich so bequem wie möglich machen konnten, fuhren sie los. „Wir wollten die Strecke am Stück fahren“, sagt Sommerlad. Mit kurzen Unterbrechungen, um mal auf die Toilette zu gehen, Babys zu wickeln oder eine Kleinigkeit zu essen, dauerte die Fahrt 14 Stunden. Tanken sei inzwischen schwierig, es gebe nicht mehr überall Diesel.
Einer der Kleintransporter ließ die Geflüchteten in Warschau und München raus, wo die Menschen Verwandte oder Freunde haben, bei denen sie unterkommen konnten. Die anderen sind alle mitgekommen ins Mietwerk, wo nicht nur Betten hergerichtet waren, sondern es auch Essen gab.
Wie Sommerlad berichtet, haben zwei Kinderärztinnen die Kinder untersucht, zuerst am Sonntag, dann nochmal am Montag. Alle CoronaTests seien bisher zum Glück negativ ausgefallen, was Sommerlad angesichts der Zustände in dem Auffanglager wie ein Wunder erscheint. Dennoch seien die Familien gesundheitlich in einem schlechten Zustand, würden jetzt aber auch medizinisch versorgt.
Die Strapazen des Krieges und der Flucht seien den Müttern und ihren Kindern anzumerken. Ein Junge habe während der ganzen Fahrt gezittert. Er zittere nicht nur, er habe Angst zu husten. „Er erschrickt vor seinem eigenen Husten, seit das Gebäude direkt neben seinem Wohnhaus bombardiert worden ist“, sagt Sommerlad. Der Junge sei mit seiner Oma unterwegs und die habe ihm Fotos von dem bombardierten Haus gezeigt.
Eine Traumatherapeutin habe den Helferinnen und Helfern nun geraten, die Geflüchteten in Ruhe zu lassen und nur wenige Fragen zu stellen. Bislang seien sie eher distanziert und bräuchten Ruhe. Aus diesem Grund hat sich auch die Lindauer Zeitung dagegen entschieden, die Geflüchteten im Mietwerk zu besuchen.
Im Mietwerk wurde eine Kleiderkammer eingerichtet, es gibt Frühstück und es wird gekocht. Die Helferinnen und Helfer suchen jetzt Unterkünfte für die Geflüchteten. „Es wäre am besten, wenn sie in Familien unterkommen“, sagt Sommerlad. Die Hilfsbereitschaft in Lindau sei riesig. „Das stimmt uns zuversichtlich.“Am Freitag will das Team erneut nach Polen aufbrechen, um Menschen aus der Ukraine aus dem Auffanglager abzuholen.
Dem Landkreis Lindau sind nach Auskunft von Pressesprecherin Sibylle Ehreiser offiziell noch immer keine Flüchtlinge zugewiesen worden. Das Landratsamt hat in der Doppelturnhalle in Heimenkirch eine Notfallunterkunft eingerichtet. Theoretisch können dort seit Freitag 150 untergebracht werden. Zusätzlich wird auf dem Zeltplatz in Sauters eine Notfallunterbringung aufgebaut. Sie soll in der kommenden Woche fertig sein.
In Heimenkirch können sich auch Menschen registrieren, die über private Initiativen im Kreis untergekommen sind. Zuerst war das nur über eine persönliche Registrierung im Ankerzentrum in Augsburg möglich. Nachdem es Kritik gab und aufgrund stark steigender Zahlen eine zentrale Registrierung derzeit nur noch eingeschränkt möglich ist, hat das Landratsamt das geändert. Dieses Vorgehen ersetze zwar nicht eine Registrierung zu einem späteren Zeitpunkt, helfe jedoch, die Lage zu entspannen, wird Landrat Elmar Stegmann in einer Pressemitteilung zitiert.