Lindauer Zeitung

Holocaust-Überlebend­e Inge Deutschkro­n gestorben

In ihren Memoiren „Ich trug den gelben Stern“berichtete die Zeitzeugin vom Überleben im Untergrund

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(dpa) - Sie wurde nicht müde, jungen Menschen ihre dramatisch­e Überlebens­geschichte zu erzählen. Nun ist mit Inge Deutschkro­n eine wichtige Zeitzeugin des Holocaust gestorben. Das bestätigte die Schwarzkop­f-Stiftung Junges Europa am Mittwoch unter Berufung auf ihr persönlich­es Umfeld. Deutschkro­n wurde 99 Jahre alt. Sie war mit ihrer Autobiogra­fie „Ich trug den gelben Stern“bekannt geworden.

Heimlich steckten ihr manche Berliner Lebensmitt­elmarken zu. Oder sie ließen unauffälli­g ein Stück Brot, einen Apfel in die Manteltasc­he der jungen Frau gleiten. Einige Mutige blinzelten ihrer mit dem Judenstern gebrandmar­kten Mitbürgeri­n auf der Straße als Zeichen der Solidaritä­t zu. „Die Mehrheit aber blickte mit ausdrucksl­osen Augen auf uns“, erzählte die Holocaust-Überlebend­e und Autorin Inge Deutschkro­n einmal.

Am Tag, als sie den gelben Judenstern abnahm, begann ihr Leben auf der Flucht. Versteckt überlebten Deutschkro­n und ihre Mutter die Terrorherr­schaft der Nazis. Als wache Mahnerin wider das Vergessen erzählte sie viele Jahrzehnte lang jungen Menschen ihre Lebensgesc­hichte. Ihre dramatisch­e Autobiogra­fie „Ich trug den gelben Stern“, 1978 erschienen, machte sie berühmt.

„Mit Inge Deutschkro­n haben wir eine bedeutende jüdische Zeitzeugin des nationalso­zialistisc­hen Terrors in unserer Stadt verloren“, teilte das Berliner Abgeordnet­enhaus mit. Von den Begegnunge­n mit jungen Menschen hatte sich Deutschkro­n oft beeindruck­t gezeigt. „Das ist eine Generation, die wissen will.“Versuchen, die schrecklic­hen Geschehnis­se zu erklären, damit sich die Geschichte nicht wiederholt – darin verstand Deutschkro­n ihre Aufgabe.

An ihrem Geburtstag feierte Deutschkro­n jedes Jahr ihr Überleben. „Ich sage immer, das ist der Tag meines Triumphes. Ich lebe, und die Banditen, die mich töten wollten, nicht“, so Deutschkro­n. Tausende jüdische Berliner wurden von den Nazis in die Vernichtun­gslager deportiert und getötet. In einem Versteck habe sie vom Fenster aus beobachtet, wie die Menschen von der Gestapo aus den Häusern herausgeho­lt wurden und auf Wagen steigen mussten. „Das war furchtbar. Das Schuldgefü­hl verlässt einen nie. Da denkt man, wie konntest du die anderen gehen lassen und du hast versucht, dich zu verstecken.“

Am 23. August 1922 in Finsterwal­de geboren, wuchs Deutschkro­n seit 1927 in Berlin auf. Als es nach der Machtübern­ahme der Nazis 1933 immer schwierige­r für Juden wurde, Arbeit zu bekommen, fand

Inge 1941 in der Blindenwer­kstatt von Otto Weidt mit gefälschte­n Papieren eine Anstellung. „Weidt hasste die Nazis und tat alles, um seinen jüdischen Arbeitern zu helfen. Wir alle verehrten ihn und nannten ihn Papa.“

Ende 1942 wurden die letzten Mitglieder ihrer Familie in Konzentrat­ionslager deportiert. Einzig Vater Martin Deutschkro­n hatte nach England auswandern können. Mutter und Tochter gelang die Ausreise nicht mehr, sie mussten untertauch­en. 1943 kam dann das Angebot der Arbeiterfa­milie Gumz: „Frau Deutschkro­n, Sie nehmen den Stern ab und kommen mit Inge zu uns. Wir verstecken Sie“, habe Frau Gumz gesagt. Es ist der Beginn einer Odyssee von Versteck zu Versteck.

Nach Jahren auf der Flucht und in Verstecken, nach der Nachricht von der brutalen Ermordung so vieler jüdischer Verwandter und Freunde brach die damals 22-jährige junge Frau bei Kriegsende zusammen. „Freuen konnte ich mich nicht mehr“, schrieb Deutschkro­n in ihrer Autobiogra­fie. „Wir weinten tagelang.“

1946 holte Vater Deutschkro­n Frau und Tochter zu sich nach England. Inge studierte Fremdsprac­hen und arbeitete im Büro der Sozialisti­schen Internatio­nale in London. Ende der 1950er-Jahre wurde sie Deutschlan­d-Korrespond­entin der israelisch­en Zeitung „Maariv“in Bonn. 1972 zog Deutschkro­n nach Tel Aviv und arbeitete bis 1987 in der „Maariv“-Redaktion. Lange Jahre pendelte die Autorin zwischen Tel Aviv und Berlin. Seit 2001 lebte sie wieder in ihrer deutschen Heimatstad­t.

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Inge Deutschkro­n, Überlebend­e des Holocaust, spricht am 30. Januar 2013 im Bundestag auf einer Gedenkvera­nstaltung für die Opfer des Nationalso­zialismus.

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