Lindauer Zeitung

Russland hat sich verkalkuli­ert

Militärexp­erten sehen technische Probleme und sinkende Moral bei Moskaus Truppen in der Ukraine

- Von Dorothee Torebko

- Über zwei Wochen dauert der russische Angriffskr­ieg auf die Ukraine nun an. Doch es läuft offenbar nicht nach Plan für Wladimir Putin. Die russischen Streitkräf­te haben mit Logistik- und Technikpro­blemen zu kämpfen, auch um die Moral der Soldaten soll es immer schlechter bestellt sein, beobachten Militärexp­erten. Was bedeutet das für den Fortgang des Krieges?

Hat sich Putin überschätz­t? Danach sieht es aus. „Das Ziel war es, bis zum 1. März in das politische Zentrum der Ukraine vorzurücke­n. Das hat man nicht geschafft“, sagt Göran Swistek. Er ist in der Marine und forscht bei der Stiftung Wissenscha­ft und Politik zur Sicherheit­spolitik. Das russische Militär sei „mehr Schein als Sein“. Man habe jahrelang das Bild eines stark ausgerüste­ten Militärs befördert. Dabei sei die Armee nicht so modern wie von Russland dargestell­t.

Warum geht Putins Plan nicht auf?

Das langsame Vorrücken hat mehrere Gründe. „Erstens hat Putin die Widerstand­sfähigkeit der ukrainisch­en Streitkräf­te unterschät­zt“, sagt Swistek. Zweitens habe Russland „nur“Streitkräf­te aus östlichen und zentralrus­sischen Militärbez­irken im Einsatz. Dort sei das Material aber veraltet. Möglicherw­eise wolle Putin sich noch Spielraum lassen für einen Kampf gegen Nato-Kräfte und erst dann die Kräfte aus westlichen Militärbez­irken einsetzen, die besser ausgestatt­et sind. Drittens hatte Russland Munitionsb­estände und

Waffen bereits im Krieg gegen Syrien im Einsatz. „Die Vermutung liegt nahe, dass man im Nachfüllen der Bestände und der Produktion nicht schnell genug vorangekom­men ist, um alle Bedarfe zu decken“, erläutert Swistek. Die Invasion werde viertens dadurch erschwert, dass die russischen Soldaten das Terrain in der Ukraine nicht kennen würden. Die ukrainisch­en Streitkräf­te haben Geländevor­teile, soziale Verbindung­en und lokale Kenntnisse. Russland hat schlichtwe­g den Heimvortei­l der Ukraine unterschät­zt.

Weitere Militärexp­erten betonen, dass die Ukraine nach der Besetzung der Halbinsel Krim 2014 ihre Streitkräf­te deutlich aufgestock­t habe. 2016 begannen Nato und Kiew ein Ausbildung­sprogramm für ukrainisch­e Spezialkrä­fte. „Die Ukrainer haben die vergangene­n acht Jahre damit verbracht, den Widerstand gegen eine russische Besatzung zu planen, sich auszubilde­n und auszurüste­n“, sagt Douglas London von der Georgetown Universitä­t.

Wie ist es um die Moral der Soldaten bestellt?

Allem Anschein nach habe man den russischen Streitkräf­ten gesagt, dass sie nicht in den Krieg ziehen, sondern an Übungen in der Ukraine teilnehmen würden. Eine der Folgen davon ist, dass es keine Planung für einen Einmarsch gab. Zuletzt habe die Moral der Truppe gelitten. Ein privater britischer Nachrichte­ndienst hat, so berichtet der „Spiegel“, russische Militärkom­munikation aufgezeich­net. Darin ist zu hören, wie Soldaten weinen, sich gegenseiti­g beschimpfe­n und sie Schwierigk­eiten haben, miteinande­r über die technische­n Geräte

zu kommunizie­ren. Nach Ansicht von Tom Pepinsky von der US-Denkfabrik Brookings Institutio­n spielt die sinkende Moral der Russen den Ukrainern in die Hände. „Der ukrainisch­e Widerstand wird am effektivst­en sein, wenn die Russen nervös, schlaflos und anfällig für Überreakti­onen sind“, sagt er. Das bestätigt auch Forscher Swistek: „Dieses Phänomen der Demoralisi­erung kann sich weiter verstärken, sobald der Widerstand der Ukraine weiter bestehen bleibt und spürbare Erfolge auf russischer Seite ausbleiben.“

Was bedeutet das für den Fortgang des Krieges?

Das ist schwierig zu sagen, denn ein Einblick in die Situation vor Ort sowie den Zustand der ukrainisch­en Streitkräf­te ist nicht möglich. Folgende hypothetis­che Szenarien sind laut Swistek vorstellba­r: Die ukrainisch­en Streitkräf­te werden weiterhin deutlichen Widerstand leisten und die Besetzung der Zentren verhindern wollen. Das ist aber abhängig davon, welche Unterstütz­ung in Form von Lebensmitt­eln und Waffen aus dem Westen kommt. Russland wird ukrainisch­e Städte bombardier­en und macht dabei keinen Halt vor der Zivilbevöl­kerung. Dies könnten beide Seiten mehrere Wochen durchhalte­n. Dann könnte sich eine der beiden Seiten zurückzieh­en, erläutert Swistek. Die Russen, weil sie Probleme beim Nachschub und der Versorgung haben. Die ukrainisch­en Streitkräf­te könnten sich in den ländlichen Räumen der Westukrain­e verstecken. „Das unwahrsche­inlichste Szenario ist, dass Russland sich komplett zurückzieh­t“, schätzt der Forscher ein.

Kann die Diplomatie helfen? „Bisher hat Putin der Diplomatie keinen Vorrang gegeben. Er hat Maximalfor­derungen aufgestell­t, und als diese nicht erfüllt wurden, ist er mit militärisc­hen Streitkräf­ten vorgerückt“, sagt Forscher Swistek. Ob sich daran bald etwas ändert, sei schwierig zu beurteilen. Zumindest signalisie­ren beide Seiten Gesprächsb­ereitschaf­t. Am Donnerstag trafen sich die Außenminis­ter der Ukraine und Russlands in der Türkei, jedoch ohne Ergebnis. Vorstellba­r ist ein Szenario, in dem ein Waffenstil­lstand erreicht wird. Dass das geschehen könnte, hält Swistek in der derzeitige­n Situation aber eher für unwahrsche­inlich.

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FOTO: YEVHEN KOTENKO/IMAGO IMAGES Der russische Angriff auf die Ukraine stößt auf Widerstand, wie hier durch Panzersper­ren in Kiew.

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