Russland hat sich verkalkuliert
Militärexperten sehen technische Probleme und sinkende Moral bei Moskaus Truppen in der Ukraine
- Über zwei Wochen dauert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nun an. Doch es läuft offenbar nicht nach Plan für Wladimir Putin. Die russischen Streitkräfte haben mit Logistik- und Technikproblemen zu kämpfen, auch um die Moral der Soldaten soll es immer schlechter bestellt sein, beobachten Militärexperten. Was bedeutet das für den Fortgang des Krieges?
Hat sich Putin überschätzt? Danach sieht es aus. „Das Ziel war es, bis zum 1. März in das politische Zentrum der Ukraine vorzurücken. Das hat man nicht geschafft“, sagt Göran Swistek. Er ist in der Marine und forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik zur Sicherheitspolitik. Das russische Militär sei „mehr Schein als Sein“. Man habe jahrelang das Bild eines stark ausgerüsteten Militärs befördert. Dabei sei die Armee nicht so modern wie von Russland dargestellt.
Warum geht Putins Plan nicht auf?
Das langsame Vorrücken hat mehrere Gründe. „Erstens hat Putin die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte unterschätzt“, sagt Swistek. Zweitens habe Russland „nur“Streitkräfte aus östlichen und zentralrussischen Militärbezirken im Einsatz. Dort sei das Material aber veraltet. Möglicherweise wolle Putin sich noch Spielraum lassen für einen Kampf gegen Nato-Kräfte und erst dann die Kräfte aus westlichen Militärbezirken einsetzen, die besser ausgestattet sind. Drittens hatte Russland Munitionsbestände und
Waffen bereits im Krieg gegen Syrien im Einsatz. „Die Vermutung liegt nahe, dass man im Nachfüllen der Bestände und der Produktion nicht schnell genug vorangekommen ist, um alle Bedarfe zu decken“, erläutert Swistek. Die Invasion werde viertens dadurch erschwert, dass die russischen Soldaten das Terrain in der Ukraine nicht kennen würden. Die ukrainischen Streitkräfte haben Geländevorteile, soziale Verbindungen und lokale Kenntnisse. Russland hat schlichtweg den Heimvorteil der Ukraine unterschätzt.
Weitere Militärexperten betonen, dass die Ukraine nach der Besetzung der Halbinsel Krim 2014 ihre Streitkräfte deutlich aufgestockt habe. 2016 begannen Nato und Kiew ein Ausbildungsprogramm für ukrainische Spezialkräfte. „Die Ukrainer haben die vergangenen acht Jahre damit verbracht, den Widerstand gegen eine russische Besatzung zu planen, sich auszubilden und auszurüsten“, sagt Douglas London von der Georgetown Universität.
Wie ist es um die Moral der Soldaten bestellt?
Allem Anschein nach habe man den russischen Streitkräften gesagt, dass sie nicht in den Krieg ziehen, sondern an Übungen in der Ukraine teilnehmen würden. Eine der Folgen davon ist, dass es keine Planung für einen Einmarsch gab. Zuletzt habe die Moral der Truppe gelitten. Ein privater britischer Nachrichtendienst hat, so berichtet der „Spiegel“, russische Militärkommunikation aufgezeichnet. Darin ist zu hören, wie Soldaten weinen, sich gegenseitig beschimpfen und sie Schwierigkeiten haben, miteinander über die technischen Geräte
zu kommunizieren. Nach Ansicht von Tom Pepinsky von der US-Denkfabrik Brookings Institution spielt die sinkende Moral der Russen den Ukrainern in die Hände. „Der ukrainische Widerstand wird am effektivsten sein, wenn die Russen nervös, schlaflos und anfällig für Überreaktionen sind“, sagt er. Das bestätigt auch Forscher Swistek: „Dieses Phänomen der Demoralisierung kann sich weiter verstärken, sobald der Widerstand der Ukraine weiter bestehen bleibt und spürbare Erfolge auf russischer Seite ausbleiben.“
Was bedeutet das für den Fortgang des Krieges?
Das ist schwierig zu sagen, denn ein Einblick in die Situation vor Ort sowie den Zustand der ukrainischen Streitkräfte ist nicht möglich. Folgende hypothetische Szenarien sind laut Swistek vorstellbar: Die ukrainischen Streitkräfte werden weiterhin deutlichen Widerstand leisten und die Besetzung der Zentren verhindern wollen. Das ist aber abhängig davon, welche Unterstützung in Form von Lebensmitteln und Waffen aus dem Westen kommt. Russland wird ukrainische Städte bombardieren und macht dabei keinen Halt vor der Zivilbevölkerung. Dies könnten beide Seiten mehrere Wochen durchhalten. Dann könnte sich eine der beiden Seiten zurückziehen, erläutert Swistek. Die Russen, weil sie Probleme beim Nachschub und der Versorgung haben. Die ukrainischen Streitkräfte könnten sich in den ländlichen Räumen der Westukraine verstecken. „Das unwahrscheinlichste Szenario ist, dass Russland sich komplett zurückzieht“, schätzt der Forscher ein.
Kann die Diplomatie helfen? „Bisher hat Putin der Diplomatie keinen Vorrang gegeben. Er hat Maximalforderungen aufgestellt, und als diese nicht erfüllt wurden, ist er mit militärischen Streitkräften vorgerückt“, sagt Forscher Swistek. Ob sich daran bald etwas ändert, sei schwierig zu beurteilen. Zumindest signalisieren beide Seiten Gesprächsbereitschaft. Am Donnerstag trafen sich die Außenminister der Ukraine und Russlands in der Türkei, jedoch ohne Ergebnis. Vorstellbar ist ein Szenario, in dem ein Waffenstillstand erreicht wird. Dass das geschehen könnte, hält Swistek in der derzeitigen Situation aber eher für unwahrscheinlich.