Unterstützung ja, EU-Beitritt nein
Nach nächtlichem Streit lehnt der Gipfel in Versailles die Forderung der Ukraine ab – Gas aus Russland soll vorerst weiter fließen
- Am Ende hat die Vorsicht gesiegt. Um drei Uhr in der Nacht zu Freitag veröffentlichten die EU-Regierungschefs eine Erklärung, die vom ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj zunächst mit dröhnendem Schweigen beantwortet wurde. Russland und „sein Spießgeselle“Belarus werden aufgefordert, ihre Truppen unverzüglich zurückzuziehen. Der Mut des ukrainischen Volkes wird gelobt. Weitere humanitäre Hilfe wird zugesagt. Doch in der Beitrittsfrage verstecken sich die Staatenlenker hinter Bürokratendeutsch: „Der Rat hat rasch gehandelt und die Europäische Kommission ersucht, im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen der Verträge zu dem Antrag Stellung zu nehmen.“
In klare Worte übersetzt, heißt das: Es wird noch Jahre dauern, bis die Ukraine zur EU gehört. „Ich habe zwei Jahrzehnte damit verbracht, für den Beitritt meines Landes zu arbeiten, ich weiß, wie komplex das ist“, erklärte der kroatische Premierminister Andrej Plenkovic gestern Morgen vor Beginn des zweiten Gipfeltages. Ähnlich zurückhaltend äußerte sich sein Kollege Xavier Bettel aus Luxemburg: „Natürlich muss die Ukraine – und auch Georgien, Moldawien – eine europäische Perspektive haben. Aber wir können nicht einfach die Regeln über Bord schmeißen. Denken Sie an die Balkanländer. Wie lange warten die schon …“
Seine Enttäuschung über das Ergebnis zeigte Litauens Regierungschef Gitanas Nauseda. „Die Hoffnung der Menschen in der Ukraine ist an die Europäische Union gebunden.“Doch in einigen Ländern gebe es innenpolitische Vorbehalte. Das spielt auf die Erweiterungsmüdigkeit in den „alten“EU-Staaten an. Sie wollen sich weder neue Regionalkonflikte noch weitere finanzielle Belastungen aufladen. „Gibt es ein Schnellverfahren für die Mitgliedschaft?“, fragte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte und antwortete sich selbst: „Das existiert nicht in unserem Regelwerk.“
Finanziell freigiebig zeigten sich hingegen alle angesichts des fortdauernden Leids und der entsetzlichen
Nachrichten aus dem Kriegsgebiet. Die EU-Kommission will diese Woche 300 Millionen Euro an humanitärer Hilfe überweisen und nächste Woche nochmals den gleichen Betrag. Auch das Sanktionspaket soll nochmals aufgestockt werden. Der Außenbeauftragte Josep Borrell kündigte
Mit Blick auf schon spürbare Beeinträchtigungen der deutschen Wirtschaft haben Wirtschaftsverbände vor den Folgen weiterer Sanktionen gegen Russland gewarnt – möglich wäre etwa ein Embargo für Öl oder Gas. „In der deutschen Wirtschaft gibt es eine breite Zustimmung für die harten Sanktionen. Denn Krieg ist keine Basis für Geschäfte“, sagte Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags an, die Militärhilfe der EU um weitere 500 Millionen Euro auf insgesamt eine Milliarde zu verdoppeln. Dem widersprachen allerdings Rutte und Bundeskanzler Olaf Scholz. Auch die französischen Pläne, zusätzliche gemeinsame Schulden aufzunehmen, um die wirtschaftlichen
Folgen des Krieges für die EU abzufedern, lehnen sie ab. Beide verweisen auf das existierende milliardenschwere EU-Förderprogramm, das dafür eingesetzt werden könne.
Die Forderung Finnlands und der baltischen Staaten, Öl- und Gasimporte aus Russland zu stoppen und damit den finanziellen Nachschub für die Kriegsmaschinerie auszutrocknen, fand ebenfalls keine Mehrheit – geschweige denn die erforderliche Einstimmigkeit. Scholz verwies auf das beschlossene Sanktionspaket, das bereits Wirkung zeige. Die Frage nach dem Beitrittswunsch der Ukraine beantwortete er nicht.
Die Regierungschefs Ungarns und Polens, die Brüsseler Kritik an ihrer Justiz- und Medienpolitik stets geschlossen entgegentreten, sind beim Thema Sanktionen tief gespalten. Trotz großer Abhängigkeit von russischer Kohle sei sein Land bereit, die Importe zu stoppen, hat Polens Mateus Morawiecki in den letzten zwei Wochen mehrfach erklärt. Ungarns Victor Orban hingegen hat angekündigt, Gas- und Ölsanktionen nicht mitzutragen. Er werde nicht zulassen, dass ungarische Familien die Zeche zahlen. 90 Prozent der Privathaushalte in seinem Land heizten mit Gas. Und der Großteil der Importe komme aus Russland.
Weder der polnische noch der ungarische Premier ließen sich auf dem Vorplatz des prächtigen Versailler Schlosses blicken, wo zu Fanfarenklängen der republikanischen Garde mehrere unmittelbare Nachbarn des Kriegsgeschehens, nämlich die Chefs der baltischen Staaten und Finnlands, ausführliche Interviews gaben. „Wir müssen russische fossile Brennstoffe so schnell wie möglich loswerden. Es ist widersprüchlich, dass wir auf der einen Seite sehr harte Sanktionen verhängen, auf der anderen Seite aber durch unsere Ölund Gaskäufe den Krieg mit finanzieren“, kritisierte die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin. Und ihr litauischer Kollege sagte: „Mein Land ist sehr widerstandsfähig, weil wir von Anfang an keine Illusionen hatten, was Russland angeht.“
Die Forderungen, mit Kriegsverbrechern keine Geschäfte mehr zu machen, werden lauter. Der Bundeskanzler sagte auf Nachfrage, niemand habe von Deutschland verlangt, seine russischen Gasimporte sofort zu stoppen. Die EU-Kommission will aber im Mai einen Vorschlag machen, wie sich Europa bereits 2027 von russischen Energielieferungen unabhängig machen kann. Fünf Heizperioden sind es bis dahin.