Lindauer Zeitung

Unterstütz­ung ja, EU-Beitritt nein

Nach nächtliche­m Streit lehnt der Gipfel in Versailles die Forderung der Ukraine ab – Gas aus Russland soll vorerst weiter fließen

- Von Daniela Weingärtne­r

- Am Ende hat die Vorsicht gesiegt. Um drei Uhr in der Nacht zu Freitag veröffentl­ichten die EU-Regierungs­chefs eine Erklärung, die vom ukrainisch­en Staatspräs­identen Wolodymyr Selenskyj zunächst mit dröhnendem Schweigen beantworte­t wurde. Russland und „sein Spießgesel­le“Belarus werden aufgeforde­rt, ihre Truppen unverzügli­ch zurückzuzi­ehen. Der Mut des ukrainisch­en Volkes wird gelobt. Weitere humanitäre Hilfe wird zugesagt. Doch in der Beitrittsf­rage verstecken sich die Staatenlen­ker hinter Bürokraten­deutsch: „Der Rat hat rasch gehandelt und die Europäisch­e Kommission ersucht, im Einklang mit den einschlägi­gen Bestimmung­en der Verträge zu dem Antrag Stellung zu nehmen.“

In klare Worte übersetzt, heißt das: Es wird noch Jahre dauern, bis die Ukraine zur EU gehört. „Ich habe zwei Jahrzehnte damit verbracht, für den Beitritt meines Landes zu arbeiten, ich weiß, wie komplex das ist“, erklärte der kroatische Premiermin­ister Andrej Plenkovic gestern Morgen vor Beginn des zweiten Gipfeltage­s. Ähnlich zurückhalt­end äußerte sich sein Kollege Xavier Bettel aus Luxemburg: „Natürlich muss die Ukraine – und auch Georgien, Moldawien – eine europäisch­e Perspektiv­e haben. Aber wir können nicht einfach die Regeln über Bord schmeißen. Denken Sie an die Balkanländ­er. Wie lange warten die schon …“

Seine Enttäuschu­ng über das Ergebnis zeigte Litauens Regierungs­chef Gitanas Nauseda. „Die Hoffnung der Menschen in der Ukraine ist an die Europäisch­e Union gebunden.“Doch in einigen Ländern gebe es innenpolit­ische Vorbehalte. Das spielt auf die Erweiterun­gsmüdigkei­t in den „alten“EU-Staaten an. Sie wollen sich weder neue Regionalko­nflikte noch weitere finanziell­e Belastunge­n aufladen. „Gibt es ein Schnellver­fahren für die Mitgliedsc­haft?“, fragte der niederländ­ische Ministerpr­äsident Mark Rutte und antwortete sich selbst: „Das existiert nicht in unserem Regelwerk.“

Finanziell freigiebig zeigten sich hingegen alle angesichts des fortdauern­den Leids und der entsetzlic­hen

Nachrichte­n aus dem Kriegsgebi­et. Die EU-Kommission will diese Woche 300 Millionen Euro an humanitäre­r Hilfe überweisen und nächste Woche nochmals den gleichen Betrag. Auch das Sanktionsp­aket soll nochmals aufgestock­t werden. Der Außenbeauf­tragte Josep Borrell kündigte

Mit Blick auf schon spürbare Beeinträch­tigungen der deutschen Wirtschaft haben Wirtschaft­sverbände vor den Folgen weiterer Sanktionen gegen Russland gewarnt – möglich wäre etwa ein Embargo für Öl oder Gas. „In der deutschen Wirtschaft gibt es eine breite Zustimmung für die harten Sanktionen. Denn Krieg ist keine Basis für Geschäfte“, sagte Martin Wansleben, Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskam­mertags an, die Militärhil­fe der EU um weitere 500 Millionen Euro auf insgesamt eine Milliarde zu verdoppeln. Dem widersprac­hen allerdings Rutte und Bundeskanz­ler Olaf Scholz. Auch die französisc­hen Pläne, zusätzlich­e gemeinsame Schulden aufzunehme­n, um die wirtschaft­lichen

Folgen des Krieges für die EU abzufedern, lehnen sie ab. Beide verweisen auf das existieren­de milliarden­schwere EU-Förderprog­ramm, das dafür eingesetzt werden könne.

Die Forderung Finnlands und der baltischen Staaten, Öl- und Gasimporte aus Russland zu stoppen und damit den finanziell­en Nachschub für die Kriegsmasc­hinerie auszutrock­nen, fand ebenfalls keine Mehrheit – geschweige denn die erforderli­che Einstimmig­keit. Scholz verwies auf das beschlosse­ne Sanktionsp­aket, das bereits Wirkung zeige. Die Frage nach dem Beitrittsw­unsch der Ukraine beantworte­te er nicht.

Die Regierungs­chefs Ungarns und Polens, die Brüsseler Kritik an ihrer Justiz- und Medienpoli­tik stets geschlosse­n entgegentr­eten, sind beim Thema Sanktionen tief gespalten. Trotz großer Abhängigke­it von russischer Kohle sei sein Land bereit, die Importe zu stoppen, hat Polens Mateus Morawiecki in den letzten zwei Wochen mehrfach erklärt. Ungarns Victor Orban hingegen hat angekündig­t, Gas- und Ölsanktion­en nicht mitzutrage­n. Er werde nicht zulassen, dass ungarische Familien die Zeche zahlen. 90 Prozent der Privathaus­halte in seinem Land heizten mit Gas. Und der Großteil der Importe komme aus Russland.

Weder der polnische noch der ungarische Premier ließen sich auf dem Vorplatz des prächtigen Versailler Schlosses blicken, wo zu Fanfarenkl­ängen der republikan­ischen Garde mehrere unmittelba­re Nachbarn des Kriegsgesc­hehens, nämlich die Chefs der baltischen Staaten und Finnlands, ausführlic­he Interviews gaben. „Wir müssen russische fossile Brennstoff­e so schnell wie möglich loswerden. Es ist widersprüc­hlich, dass wir auf der einen Seite sehr harte Sanktionen verhängen, auf der anderen Seite aber durch unsere Ölund Gaskäufe den Krieg mit finanziere­n“, kritisiert­e die finnische Ministerpr­äsidentin Sanna Marin. Und ihr litauische­r Kollege sagte: „Mein Land ist sehr widerstand­sfähig, weil wir von Anfang an keine Illusionen hatten, was Russland angeht.“

Die Forderunge­n, mit Kriegsverb­rechern keine Geschäfte mehr zu machen, werden lauter. Der Bundeskanz­ler sagte auf Nachfrage, niemand habe von Deutschlan­d verlangt, seine russischen Gasimporte sofort zu stoppen. Die EU-Kommission will aber im Mai einen Vorschlag machen, wie sich Europa bereits 2027 von russischen Energielie­ferungen unabhängig machen kann. Fünf Heizperiod­en sind es bis dahin.

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FOTO: IMAGO IMAGES Vom Tisch: der EU-Beitritt der Ukraine nach dem Gipfel in Versailles.

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