Lindauer Zeitung

Rufe nach Entlastung werden lauter

Energiepre­ise bringen Wirtschaft und Verbrauche­r in die Bredouille – Politik stellt Hilfen in Aussicht

- Von Andreas Hoenig und Tobias Hanraths

(dpa) - Die wegen des Ukraine-Kriegs stark gestiegene­n Energiepre­ise drohen Unternehme­n und Privathaus­halte schwer zu belasten. Der Deutsche Industrie- und Handelskam­mertag (DIHK) warnte vor einer Kostenexpl­osion für Firmen und forderte die Bundesregi­erung zu kurzfristi­gen Stabilisie­rungsmaßna­hmen auf. Politiker der Ampel-Koalition stellten zusätzlich­e Entlastung­smaßnahmen für Wirtschaft und Verbrauche­r in Aussicht.

Eine befristete Senkung der Mehrwertst­euer, die zum Beispiel von der Union gefordert wird, soll es nach Aussage von Bundesfina­nzminister Christian Lindner (FDP) aber nicht geben. „Wenn die Union eine sogenannte Spritpreis­bremse fordert, dann muss sie sagen, was sie im Haushalt kürzen will“, sagte Lindner dem Berliner „Tagesspieg­el“. „Oder sie muss bekennen, dass sie dafür neue Schulden aufzunehme­n bereit ist.“

Die Regierung arbeite jedoch an Maßnahmen, sagte Lindner. Er gehe davon aus, dass „in Kürze“weitere Beschlüsse gefasst werden. Die hohen Preise seien eine Belastung für Menschen und Betriebe, der Staat dürfe die Menschen damit nicht alleine lassen. „Als liberaler Finanzmini­ster habe ich mich schon vor der Krise für strukturel­le steuerlich­e Entlastung­en ausgesproc­hen. Jetzt brauchen wir allerdings schnelle und flexible Lösungen, die wirklich bei den Menschen ankommen“, so der Minister.

SPD-Fraktionsv­ize Matthias Miersch stellte dazu auch Nachbesser­ungen beim Entlastung­spaket der Ampel in Aussicht. Das Maßnahmenb­ündel – unter anderem mit einer befristete­n Anhebung der Pendlerpau­schale und einer vorgezogen­en Abschaffun­g der EEG-Umlage über die Stromrechn­ung – hatten die Spitzen von SPD, Grünen und FDP Ende Februar beschlosse­n. Seitdem sind die Energiepre­ise aber noch weiter gestiegen.

„Die einzelnen Maßnahmen werden jetzt zügig umgesetzt und falls nötig sogar noch einmal verschärft“, sagte Miersch der „Rheinische­n Post“. Besonders der Heizkosten­zuschuss für einkommens­schwache Haushalte sollte seiner Meinung nach spürbar erhöht werden.

Baden-Württember­gs Finanzmini­ster Danyal Bayaz (Grüne) verlangte vom Bund wegen steigender Preise für Energie und Lebensmitt­el mehr finanziell­e Hilfe für Ärmere und Familien. „Wir müssen die wirtschaft­lichen Auswirkung­en gezielt sozial abfedern, gerade für Menschen mit niedrigem Einkommen, einer kleinen Rente oder für Familien.“Aus seiner Sicht wäre ein „sozial gestaffelt­es Energiegel­d“die richtige Maßnahme. „Das wäre eine Direktzahl­ung an Bürgerinne­n und Bürger.“

Die Idee für ein Energiegel­d stammt aus dem Grünen-Programm für die Bundestags­wahl. Ursprüngli­ch wollte die Partei darüber die Anhebung des CO2-Preises und die damit verbundene­n höheren Preise für Benzin, Diesel und Heizöl an die Bürger zurückgebe­n. Bayaz will diese Maßnahme nun angesichts des Kriegs und seiner wirtschaft­lichen Folgen auf Deutschlan­d umwidmen. Der Grünen-Politiker räumte zugleich ein: „Aber der Staat wird nicht jede Preissteig­erung kompensier­en können. Dieser Krieg wird uns alle Wohlstand kosten.“

Auch der Industrie gehen die beschlosse­nen Entlastung­en nicht weit genug. Die vorgezogen­e Abschaffun­g der EEG-Umlage über die Stromrechn­ung sei ein wichtiges Signal,

sagte der stellvertr­etende DIHKHauptg­eschäftsfü­hrer Achim Dercks. „Sie kann aber nur einen Bruchteil der höheren Beschaffun­gskosten ausgleiche­n. Nötig sind jetzt kurzfristi­ge Stabilisie­rungsmaßna­hmen, etwa eine Absenkung der staatliche­n Umlagen und der Stromsteue­r zusammen mit zinsgünsti­gen KfWKredite­n oder sogar direkten Notfallzah­lungen.“

Südwest-Finanzmini­ster Bayaz rechnet mit einem Einbruch der Konjunktur und massiven Belastunge­n für den Haushalt im Südwesten infolge des russischen Angriffskr­iegs auf die Ukraine. „Steigende Energiepre­ise, knappe Rohstoffe und gestörte Lieferkett­en treffen auch unsere Unternehme­n im Land“, sagte der Grünen-Politiker. „All das wird sich auch negativ auf die Konjunktur auswirken. Das bedeutet: geringere Steuereinn­ahmen als erhofft und das geht dann auch zulasten des Doppelhaus­halts.“

Bayaz deutete außerdem stärkere Investitio­nen in den Umbau der Energiever­sorgung und den Klimaschut­z an. „Mehr denn je sollte uns allen klar werden, dass wir endlich konsequent von der alten fossilen Welt loskommen müssen.“Der Ausbau von erneuerbar­en Energien und die ökologisch­e Modernisie­rung der Wirtschaft seien drängende Aufgaben. „Darauf muss der politische Schwerpunk­t auch im Land liegen, das ist auch Sicherheit­spolitik für Baden-Württember­g.“

Die Bundesregi­erung arbeitet für Unternehme­n aktuell an einem Kredit-Hilfsprogr­amm. Das soll diejenigen Unternehme­n unterstütz­en, die von den EU-Sanktionen gegen Russland hart getroffen sind. Wie die „Bild“-Zeitung meldete, sind auch Überbrücku­ngshilfen für Unternehme­n im Gespräch, die stark gestiegene Rohstoffpr­eise nicht mehr tragen können. Außerdem werde eine Verlängeru­ng der Kurzarbeit­erregelung über den 30. Juni hinaus geprüft sowie eine nochmalige Anhebung der Pendlerpau­schale.

Grund für die Notlage der Industrie ist, dass aktuell jede zweite Firma ihre Strom- und Gasversorg­ung für das laufende Jahr noch vertraglic­h absichern muss, wie der DIHK unter Verweis auf eine aktuelle Firmenbefr­agung erklärte. „Damit steht jedes zweite Unternehme­n vor einer Kostenexpl­osion, die kaum aufzufange­n ist“, so Dercks. Bei Ausbruch des Krieges habe die Hälfte der Unternehme­n ihre Strom- und Gasbeschaf­fung für das laufende Jahr noch nicht abgeschlos­sen gehabt, hieß es unter Verweis auf 2000 Rückmeldun­gen von Unternehme­n aus allen Branchen.

Die hohe Zahl erkläre sich daraus, dass viele Unternehme­n auf Grund der bereits extrem hohen Preise der vergangene­n Monate abgewartet oder nur für kurze Zeiträume Liefervert­räge abgeschlos­sen haben. In der Vergangenh­eit hätten viele Betriebe einmal im Jahr für die kommenden zwölf Monate beschafft. „Das hat sich durch die aktuelle Preisspira­le deutlich verändert“, so Dercks. Ein mittleres Unternehme­n aus der Glasindust­rie habe 2015 im Schnitt noch 100 000 Euro pro Monat für seine Energiever­sorgung bezahlt. Aktuell sei dafür der fünf- bis sechsfache Betrag fällig, manchmal sogar noch mehr.

Noch deutlich schwerere Folgen drohen für die Wirtschaft im Fall eines generellen EU-Embargos russischer Energielie­ferungen. Mehrere Wirtschaft­sverbände hatten zuletzt davor gewarnt, ebenso wie Wirtschaft­sund Klimaschut­zminister Robert Habeck (Grüne). Dieser sagte der „Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung“: „Wir reden bei einem sofortigen Importstop­p über Versorgung­sengpässe im nächsten Winter, über Wirtschaft­seinbrüche und hohe Inflation, über Hunderttau­sende Menschen, die ihre Arbeit verlieren, und über Menschen, für die der Weg zur Arbeit kaum bezahlbar wird, Heizen und Strom ebenso.“

Der Minister sieht aber Fortschrit­te in den Bemühungen, die Abhängigke­it Deutschlan­ds von russischem Öl, Kohle und Gas zu verringern. „Jeden Tag, ja faktisch jede Stunde verabschie­den wir uns ein Stück weit von russischen Importen“, sagte der Grünen-Politiker der Zeitung. „Wenn es gelingt, sind wir im Herbst unabhängig von russischer Kohle und Ende des Jahres nahezu unabhängig von Öl aus Russland. Bei Gas ist es komplizier­ter, weil wir keine eigenen LNG-Importkapa­zitäten haben. Die schaffen wir jetzt unter Hochdruck.“

Deutschlan­d ist bisher abhängig von Energieimp­orten aus Russland. Nach Angaben des Wirtschaft­sministeri­ums liegt der Anteil russischer Importe an den fossilen Gasimporte­n nach Deutschlan­d bei rund 55 Prozent, bei Kohle bei rund 50 Prozent und bei Rohöleinfu­hren bei rund 35 Prozent.

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FOTO: RENE TRAUT/IMAGO IMAGES Preistafel einer Shell-Tankstelle am Sonntag: Politiker der Ampel-Koalition stellten zusätzlich­e Entlastung­smaßnahmen für Wirtschaft und Verbrauche­r in Aussicht.

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