Ein versilbertes Momentum
Nach Punktgewinn gegen Union reden beim VfB alle vom schwäbischen Aufschwung
(dpa/SID) Nach seinem späten Glücksmoment blendete Sasa Kalajdzic die harten Realitäten kurz aus und war nur ehrlich. „Ich bin einfach nur happy“, sagte Stuttgarts Torversicherung nach dem Last-Minute-Treffer für den VfB zum 1:1 beim 1. FC Union Berlin. Der 24-Jährige schob hinterher: „Keiner hat Bock auf Abstiegskampf.“So verständlich diese Einstellung auch ist, so schnell wird sich die Jobsituation für den Österreicher im Ländle aber nicht ändern, trotz des sich verheißungsvoll anfühlenden schwäbischen Fußball-Aufschwungs.
Kalajdzics Trainer, Pellegrino Matarazzo, weiß genau, was für ein zartes Pflänzchen dieses Stuttgarter Momentum in der Bundesliga ist. Last-Minute-Punkt dank Kalajdzic – okay. Sprung nach oben auf Platz 16 – schön und gut. Euphorie löst das beim VfB-Coach aber noch lange nicht aus. „Wir haben dieses Momentum, was die Ergebnisse angeht. Der Punkt tut uns natürlich gut, aber wir müssen auch in den nächsten Wochen bereit sein“, so Matarazzo.
Doch hat sich die Situation im Vergleich zu einigen Wochen vorher verändert. Im Gegensatz zu so manchem Konkurrenten im Tabellenkeller holt der VfB die Punkte auch. Dank der 0:2-Pleite von Hertha BSC bei Borussia Mönchengladbach schob sich Stuttgart immerhin an den punktgleichen Berlinern (23) vorbei auf Relegationsrang 16. Zum ersten Mal seit dem Rückrundenauftakt Anfang Januar verließen die Schwaben durch das trotz Leistungssteigerung in der zweiten Halbzeit glückliche Remis bei den Eisernen einen direkten Abstiegsplatz.
Für ein Aufatmen definitiv noch zu früh, aber die letzten beiden Spiele geben Hoffnung. Erst das erlösende 3:2 durch den Siegtreffer von Zwei-Meter-Mann Kalajdzic gegen Gladbach, nun das Unentschieden im Stadion An der Alten Försterei. Vier Punkte aus zwei Spielen haben nach vielen unglücklichen Niederlagen für eine neue Sicherheit gesorgt, die im Saisonendspurt der Bundesliga durchaus zum entscheidenden Faktor werden könnte.
Kalajdzic und seinem Tore-Flow kommt dabei eine besondere Bedeutung
Ein Stuttgarter hat allen VfBFans in den vergangenen Wochen kontinuierlich Hoffnung im Abstiegskampf gegeben. Und nein, an dieser Stelle soll es nicht wieder um Stürmer Sasa Kalajdzic gehen. Die Rede ist von Tayfun Korkut. Der mittlerweile Ex-Trainer von Hertha BSC ist gebürtiger Stuttgarter und hat mit seiner – und das ist nicht despektierlich gemeint – Nichtleistung als Trainer der Berliner maßgeblich dafür gesorgt, dass der VfB an der Hertha vorbeigezogen ist und sich berechtigte Chancen im Kampf um den Klassenerhalt machen darf.
Dabei sind wir an dieser Stelle weit davon entfernt auf den 47-jährigen Ex-Trainer des VfB (Januar 2018 bis Oktober 2018) draufzuhauen. Es geht nicht darum, an Korkuts Qualität zu zweifeln, sondern die Frage zu stellen, wie es überhaupt zu dieser Konstellation kommen konnte, die nun nach knapp dreieinhalb Monaten – und zuletzt zehn Pflichtspielen ohne Sieg – wieder geschieden wurde. Auf der einen Seite hätten wir da den „Big City Club“, der seit Jahren vom ganz großen Wurf träumt und kontinuierlich an seinen Ansprüchen scheitert. Auf der anderen Seite einen Übungsleiter, der in seiner Cheftrainervita zuvor vier Kurzzeitengagements (Hannover, Kaiserslautern, Stuttgart, Leverkusen) vorwies und bereits dort jeweils nach längeren Sieglosserien beurlaubt wurde. Statt nun mit Formulierungen wie „gleich und gleich gesellt sich gern“zu unken, ist zu hinterfragen, wieso Geschäftsführer Fredi Bobic unbedingt Korkut als Leiter seiner Großbaustelle auswählte. Eine TrainerClub-Kombination, die von einem Großteil der Experten (und Laien) sofort als zum Scheitern verurteilt
zu. „Das wollte ja immer keiner hören, dass das ein Spieler ist, der uns in der Hinrunde gefehlt hat“, hob Sven Mislintat den Stellenwert des nach Verletzung zurückgekehrten Top-Stürmers hervor, der in den letzten drei Spielen zwei Tore schoß und zwei Torvorlagen gab. Doch auch der VfB-Sportdirektor ließ sich nicht locken. „Es geht gar nicht darum, permanent auf die Tabelle zu gucken. Es ist so, dass wir den Relegationsplatz und auch Platz 15 in der eigenen Hand haben“, diagnostizierte Mislintat die Lage recht nüchtern.
Das Union-Spiel hatte für ihn auch einen Lernwert, denn die nächsten Aufgaben werden physisch ähnlich anspruchsvoll sein. Der FC Augsburg und Arminia Bielefeld sind die Gegner vor und nach der Länderspielpause – zwei direkte Kontrahenten im von Kalajdzic so ungeliebten Abstiegskampf.
Von den Eisernen hatte sich der VfB bis tief in die zweite Halbzeit ein körperliches Kampfspiel aufzwingen lassen. Und niemand hätte von einem wurde. Schon allein deshalb, weil der Kader eine Ansammlung von Kickenr verschiedenster Trainer-Ausrichtungen (man denke an den großen Jürgen Klinsmann und den kleinen Pal Dardai) war, der schwer zu lenken ist. Hinzu kommt, dass der Club seit 2019 insgesamt 375 Millionen Euro von Investor Lars Windhorst versenkt hat und ohnehin seit Monaten in Unruhe versinkt. Dass Bobic in diesen Wust aus Unwägbarkeiten unverdienten Heimsieg der Berliner gesprochen, wenn Kalajdzic nach der Traumflanke von Borna Sosa nicht den Führungstreffer von Taiwo Awoniyi (41./Handelfmeter) noch ausgeglichen hätte.
„Borna mit seiner Flanke ist natürlich Gold wert, wenn man so einen starken Kopfballspieler im Zentrum hat wie Sasa Kalajdzic“, betonte Matarazzo. Dass das Zusammenspiel nicht nur bei Kopfbällen hervorragend funktioniert, stellte das Duo bereits beim Siegtreffer gegen Gladbach unter Beweis. Der späte Ausgleich sei „wieder eine Bestätigung“dafür, dass die Mannschaft auch in der Endphase punkten könne: „Das tut gut.“
Da konnte Matarazzo sogar den Gegentreffer mit einem Augenzwinkern nehmen. Taiwo Awoniyi hatte Union nach einem durch Konstantinos Mavropanos verschuldeten Handelfmeter (41.) verdient in Führung gebracht.
Vielleicht müsse er seinem Abwehrspieler noch einmal sagen, dass
Korkut installierte, kann da nur an alten Stuttgarter Verbindungen liegen. Beide kennen sich seit Jahrzehnten, spielten einst zeitgleich bei den Stuttgarter Kickers und haben wohl nie den Kontakt verloren.
Bedenklich zudem, was diese Episode über die ganze Branche aussagt. Während die Fußballbosse ihre Kicker zumeist über Monate scouten, Unmengen Daten abgleichen, ob eine er die Hände hinter den Rücken nehme, sagte Matarazzo und schmunzelte: „Aber er ist ein großer Mann, hat große Arme.“
Bei allem Humor ist man sich in Stuttgart der bitteren Realität aber weiterhin bewusst. „Für uns war wichtig, das Momentum zu kippen und heute zu vergolden. Vergolden wäre ein Sieg gewesen, jetzt ist es versilbert“, beschrieb Mislintat das neue VfB-Gefühl. Dennoch: „Jeder Punkt ist wichtig und hier einen Punkt auf diese Weise zu erkämpfen, tut der Moral gut“, sagte der VfBTrainer: „Das gibt uns eine breite Brust für die kommenden Spiele.“Stuttgart müsse „Punkte holen und dann ist es egal, was die anderen machen“.
Die Mannschaft werde gegen den FC Augsburg in der kommenden Woche nicht so auftreten wie in der ersten Halbzeit bei Union, kündigte Kalajdzic an. Mit den 60 000 zugelassenen Zuschauern im Rücken werde die Mannschaft alles geben, „dass wir den Sieg holen“. Verpflichtung Sinn ergibt, scheinen manche Postenbesetzungen auf höchster Ebene auch heutzutage noch eher über die Kumpel-Skala des Telefonbuchs abzulaufen. Doch nur weil Korkut ein bodenständiger Mann ist, mit dem man gern Zeit verbringt, ist er noch lange nicht prädesteniert dafür, einem Chaos-Club die Saison zu retten. Bobic hat nicht nur seinem Freund einen Bärendienst erwiesen und ihn endgültig in der Bundesliga verbrannt, sondern gleichzeitig seinen eigenen Ruf als Möglichmacher beschädigt. Anders als beim Ex-Club der beiden, dem VfB Stuttgart, der auch in der schwersten Zeit an seinem Konzept bedingungslos festgehalten hat und noch hält, ist die Hertha nun im Hintertreffen und hofft auf jemanden, der ein Feuer entfachen könnte, wie es Pellegrino Matarazzo am Wasen gelungen scheint. Für Bobic Zeit zu handeln und tief in seinem Adressbuch zu wühlen. Herausgekommen ist ein Ex-Meistertrainer (Bayern München und VfL Wolfsburg), den er durchaus ebenfalls in der Gruppe „Schwaben-Connection“abgespeichert haben könnte: Felix Magath. Der 68-jährige Ex-VfBTrainer (2001 bis 2004) kehrt nach gut neun Jahren als Trainer in die Bundesliga zurück. „Mit ihm haben wir jemanden für uns gewinnen können, der schon vielfach bewiesen hat, dass er mit seiner immensen Erfahrung als Trainer in jeglicher sportlichen Situation seiner Art und seiner Ausstrahlung an den richtigen Stellschrauben drehen kann, um uns aus unserer sportlich herausfordernden Lage herauszuführen“, sagte Bobic, der wohl darauf setzt, dass alte Besen ebenfalls noch gut kehren. Was das für den VfB Stuttgart und den Abstiegskampf der Bundesliga bedeutet, muss sich erst noch zeigen.
Freitag, 18. März
VfL Bochum – B. Mönchengladbach (20.30)
Samstag, 19. März
VfB Stuttgart – FC Augsburg (15.30) FSV Mainz 05 – Arminia Bielefeld (15.30) Hertha BSC – TSG Hoffenheim (15.30) Greuther Fürth – SC Freiburg (15.30) Bayern München – Union Berlin (18.30)
Sonntag, 20. März
RB Leipzig – Eintracht Frankfurt (15.30) VfL Wolfsburg – Bayer Leverkusen (17.30) 1. FC Köln – Borussia Dortmund (19.30)