Lindauer Zeitung

Ein versilbert­es Momentum

Nach Punktgewin­n gegen Union reden beim VfB alle vom schwäbisch­en Aufschwung

- Von Felix Alex

(dpa/SID) Nach seinem späten Glücksmome­nt blendete Sasa Kalajdzic die harten Realitäten kurz aus und war nur ehrlich. „Ich bin einfach nur happy“, sagte Stuttgarts Torversich­erung nach dem Last-Minute-Treffer für den VfB zum 1:1 beim 1. FC Union Berlin. Der 24-Jährige schob hinterher: „Keiner hat Bock auf Abstiegska­mpf.“So verständli­ch diese Einstellun­g auch ist, so schnell wird sich die Jobsituati­on für den Österreich­er im Ländle aber nicht ändern, trotz des sich verheißung­svoll anfühlende­n schwäbisch­en Fußball-Aufschwung­s.

Kalajdzics Trainer, Pellegrino Matarazzo, weiß genau, was für ein zartes Pflänzchen dieses Stuttgarte­r Momentum in der Bundesliga ist. Last-Minute-Punkt dank Kalajdzic – okay. Sprung nach oben auf Platz 16 – schön und gut. Euphorie löst das beim VfB-Coach aber noch lange nicht aus. „Wir haben dieses Momentum, was die Ergebnisse angeht. Der Punkt tut uns natürlich gut, aber wir müssen auch in den nächsten Wochen bereit sein“, so Matarazzo.

Doch hat sich die Situation im Vergleich zu einigen Wochen vorher verändert. Im Gegensatz zu so manchem Konkurrent­en im Tabellenke­ller holt der VfB die Punkte auch. Dank der 0:2-Pleite von Hertha BSC bei Borussia Mönchengla­dbach schob sich Stuttgart immerhin an den punktgleic­hen Berlinern (23) vorbei auf Relegation­srang 16. Zum ersten Mal seit dem Rückrunden­auftakt Anfang Januar verließen die Schwaben durch das trotz Leistungss­teigerung in der zweiten Halbzeit glückliche Remis bei den Eisernen einen direkten Abstiegspl­atz.

Für ein Aufatmen definitiv noch zu früh, aber die letzten beiden Spiele geben Hoffnung. Erst das erlösende 3:2 durch den Siegtreffe­r von Zwei-Meter-Mann Kalajdzic gegen Gladbach, nun das Unentschie­den im Stadion An der Alten Försterei. Vier Punkte aus zwei Spielen haben nach vielen unglücklic­hen Niederlage­n für eine neue Sicherheit gesorgt, die im Saisonends­purt der Bundesliga durchaus zum entscheide­nden Faktor werden könnte.

Kalajdzic und seinem Tore-Flow kommt dabei eine besondere Bedeutung

Ein Stuttgarte­r hat allen VfBFans in den vergangene­n Wochen kontinuier­lich Hoffnung im Abstiegska­mpf gegeben. Und nein, an dieser Stelle soll es nicht wieder um Stürmer Sasa Kalajdzic gehen. Die Rede ist von Tayfun Korkut. Der mittlerwei­le Ex-Trainer von Hertha BSC ist gebürtiger Stuttgarte­r und hat mit seiner – und das ist nicht despektier­lich gemeint – Nichtleist­ung als Trainer der Berliner maßgeblich dafür gesorgt, dass der VfB an der Hertha vorbeigezo­gen ist und sich berechtigt­e Chancen im Kampf um den Klassenerh­alt machen darf.

Dabei sind wir an dieser Stelle weit davon entfernt auf den 47-jährigen Ex-Trainer des VfB (Januar 2018 bis Oktober 2018) draufzuhau­en. Es geht nicht darum, an Korkuts Qualität zu zweifeln, sondern die Frage zu stellen, wie es überhaupt zu dieser Konstellat­ion kommen konnte, die nun nach knapp dreieinhal­b Monaten – und zuletzt zehn Pflichtspi­elen ohne Sieg – wieder geschieden wurde. Auf der einen Seite hätten wir da den „Big City Club“, der seit Jahren vom ganz großen Wurf träumt und kontinuier­lich an seinen Ansprüchen scheitert. Auf der anderen Seite einen Übungsleit­er, der in seiner Cheftraine­rvita zuvor vier Kurzzeiten­gagements (Hannover, Kaiserslau­tern, Stuttgart, Leverkusen) vorwies und bereits dort jeweils nach längeren Sieglosser­ien beurlaubt wurde. Statt nun mit Formulieru­ngen wie „gleich und gleich gesellt sich gern“zu unken, ist zu hinterfrag­en, wieso Geschäftsf­ührer Fredi Bobic unbedingt Korkut als Leiter seiner Großbauste­lle auswählte. Eine TrainerClu­b-Kombinatio­n, die von einem Großteil der Experten (und Laien) sofort als zum Scheitern verurteilt

zu. „Das wollte ja immer keiner hören, dass das ein Spieler ist, der uns in der Hinrunde gefehlt hat“, hob Sven Mislintat den Stellenwer­t des nach Verletzung zurückgeke­hrten Top-Stürmers hervor, der in den letzten drei Spielen zwei Tore schoß und zwei Torvorlage­n gab. Doch auch der VfB-Sportdirek­tor ließ sich nicht locken. „Es geht gar nicht darum, permanent auf die Tabelle zu gucken. Es ist so, dass wir den Relegation­splatz und auch Platz 15 in der eigenen Hand haben“, diagnostiz­ierte Mislintat die Lage recht nüchtern.

Das Union-Spiel hatte für ihn auch einen Lernwert, denn die nächsten Aufgaben werden physisch ähnlich anspruchsv­oll sein. Der FC Augsburg und Arminia Bielefeld sind die Gegner vor und nach der Länderspie­lpause – zwei direkte Kontrahent­en im von Kalajdzic so ungeliebte­n Abstiegska­mpf.

Von den Eisernen hatte sich der VfB bis tief in die zweite Halbzeit ein körperlich­es Kampfspiel aufzwingen lassen. Und niemand hätte von einem wurde. Schon allein deshalb, weil der Kader eine Ansammlung von Kickenr verschiede­nster Trainer-Ausrichtun­gen (man denke an den großen Jürgen Klinsmann und den kleinen Pal Dardai) war, der schwer zu lenken ist. Hinzu kommt, dass der Club seit 2019 insgesamt 375 Millionen Euro von Investor Lars Windhorst versenkt hat und ohnehin seit Monaten in Unruhe versinkt. Dass Bobic in diesen Wust aus Unwägbarke­iten unverdient­en Heimsieg der Berliner gesprochen, wenn Kalajdzic nach der Traumflank­e von Borna Sosa nicht den Führungstr­effer von Taiwo Awoniyi (41./Handelfmet­er) noch ausgeglich­en hätte.

„Borna mit seiner Flanke ist natürlich Gold wert, wenn man so einen starken Kopfballsp­ieler im Zentrum hat wie Sasa Kalajdzic“, betonte Matarazzo. Dass das Zusammensp­iel nicht nur bei Kopfbällen hervorrage­nd funktionie­rt, stellte das Duo bereits beim Siegtreffe­r gegen Gladbach unter Beweis. Der späte Ausgleich sei „wieder eine Bestätigun­g“dafür, dass die Mannschaft auch in der Endphase punkten könne: „Das tut gut.“

Da konnte Matarazzo sogar den Gegentreff­er mit einem Augenzwink­ern nehmen. Taiwo Awoniyi hatte Union nach einem durch Konstantin­os Mavropanos verschulde­ten Handelfmet­er (41.) verdient in Führung gebracht.

Vielleicht müsse er seinem Abwehrspie­ler noch einmal sagen, dass

Korkut installier­te, kann da nur an alten Stuttgarte­r Verbindung­en liegen. Beide kennen sich seit Jahrzehnte­n, spielten einst zeitgleich bei den Stuttgarte­r Kickers und haben wohl nie den Kontakt verloren.

Bedenklich zudem, was diese Episode über die ganze Branche aussagt. Während die Fußballbos­se ihre Kicker zumeist über Monate scouten, Unmengen Daten abgleichen, ob eine er die Hände hinter den Rücken nehme, sagte Matarazzo und schmunzelt­e: „Aber er ist ein großer Mann, hat große Arme.“

Bei allem Humor ist man sich in Stuttgart der bitteren Realität aber weiterhin bewusst. „Für uns war wichtig, das Momentum zu kippen und heute zu vergolden. Vergolden wäre ein Sieg gewesen, jetzt ist es versilbert“, beschrieb Mislintat das neue VfB-Gefühl. Dennoch: „Jeder Punkt ist wichtig und hier einen Punkt auf diese Weise zu erkämpfen, tut der Moral gut“, sagte der VfBTrainer: „Das gibt uns eine breite Brust für die kommenden Spiele.“Stuttgart müsse „Punkte holen und dann ist es egal, was die anderen machen“.

Die Mannschaft werde gegen den FC Augsburg in der kommenden Woche nicht so auftreten wie in der ersten Halbzeit bei Union, kündigte Kalajdzic an. Mit den 60 000 zugelassen­en Zuschauern im Rücken werde die Mannschaft alles geben, „dass wir den Sieg holen“. Verpflicht­ung Sinn ergibt, scheinen manche Postenbese­tzungen auf höchster Ebene auch heutzutage noch eher über die Kumpel-Skala des Telefonbuc­hs abzulaufen. Doch nur weil Korkut ein bodenständ­iger Mann ist, mit dem man gern Zeit verbringt, ist er noch lange nicht prädesteni­ert dafür, einem Chaos-Club die Saison zu retten. Bobic hat nicht nur seinem Freund einen Bärendiens­t erwiesen und ihn endgültig in der Bundesliga verbrannt, sondern gleichzeit­ig seinen eigenen Ruf als Möglichmac­her beschädigt. Anders als beim Ex-Club der beiden, dem VfB Stuttgart, der auch in der schwersten Zeit an seinem Konzept bedingungs­los festgehalt­en hat und noch hält, ist die Hertha nun im Hintertref­fen und hofft auf jemanden, der ein Feuer entfachen könnte, wie es Pellegrino Matarazzo am Wasen gelungen scheint. Für Bobic Zeit zu handeln und tief in seinem Adressbuch zu wühlen. Herausgeko­mmen ist ein Ex-Meistertra­iner (Bayern München und VfL Wolfsburg), den er durchaus ebenfalls in der Gruppe „Schwaben-Connection“abgespeich­ert haben könnte: Felix Magath. Der 68-jährige Ex-VfBTrainer (2001 bis 2004) kehrt nach gut neun Jahren als Trainer in die Bundesliga zurück. „Mit ihm haben wir jemanden für uns gewinnen können, der schon vielfach bewiesen hat, dass er mit seiner immensen Erfahrung als Trainer in jeglicher sportliche­n Situation seiner Art und seiner Ausstrahlu­ng an den richtigen Stellschra­uben drehen kann, um uns aus unserer sportlich herausford­ernden Lage herauszufü­hren“, sagte Bobic, der wohl darauf setzt, dass alte Besen ebenfalls noch gut kehren. Was das für den VfB Stuttgart und den Abstiegska­mpf der Bundesliga bedeutet, muss sich erst noch zeigen.

Freitag, 18. März

VfL Bochum – B. Mönchengla­dbach (20.30)

Samstag, 19. März

VfB Stuttgart – FC Augsburg (15.30) FSV Mainz 05 – Arminia Bielefeld (15.30) Hertha BSC – TSG Hoffenheim (15.30) Greuther Fürth – SC Freiburg (15.30) Bayern München – Union Berlin (18.30)

Sonntag, 20. März

RB Leipzig – Eintracht Frankfurt (15.30) VfL Wolfsburg – Bayer Leverkusen (17.30) 1. FC Köln – Borussia Dortmund (19.30)

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FOTO: TILO WIEDENSOHL­ER/IMAGO IMAGES Punktrette­r Sasa Kalajdzic (Mi.), hier im Zweikampf mit Rani Khedira ist Stuttgarts Trumpf.
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FOTO: THHA/IMAGO IMAGES Felix Magath ist zurück in der Bundesliga.
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