Ein Gebot der Vernunft
Das grauenvolle Leiden der ukrainischen Bevölkerung macht fassungslos. Die Toten, die zertrümmerten Häuser, das zerstörte Leben durch den Angriffskrieg Russlands. An diesem Krieg trage der Westen eine Mitschuld, heißt es unverhohlen von ukrainischer Seite. Er habe mit seinem Energiehunger und seiner Beschwichtigungspolitik Wladimir Putin stark gemacht. Praktisch als Wiedergutmachung müsse die Nato bereit sein, sich zur Verteidigung des Landes notfalls mit Russland anzulegen. Die Ukraine verlangt nicht weniger von uns, als den Dritten Weltkrieg zu riskieren. Bei allem Verständnis, allem Mitgefühl für das Leid der Ukrainer und bei allem schlechten Gewissen: Wir dürfen uns dieser Logik nicht ergeben.
Am Donnerstag will Wolodymyr Selenskyj per Livestream vor dem Bundestag sprechen. Und er wird viele Forderungen an Deutschland wiederholen: mehr Waffenlieferungen und eine Nato-Flugverbotszone für Russland über der Ukraine – die den Abschuss russischer Flugzeuge bedeuten würde. Selenskyj ist ein sehr mutiger Mann. Und er weiß, dass die Macht der Bilder mit ihm ist. Und doch wäre es bei aller Sympathie für ihn und sein geschundenes Volk ein Fehler, die ukrainischen Ziele mit den deutschen gleichzusetzen.
Das Kleinreden der russischen Atomkriegsdrohung als „Bluff“, wie es Selenskyj kürzlich tat, stellt gegenüber dem unberechenbaren Wladimir Putin ein Vabanquespiel dar. Es gäbe nur einen einzigen Versuch, um herauszufinden, ob er seine Drohung ernst meint. Im schlechtesten Fall lägen danach nicht nur große Teile der Ukraine in Schutt und Asche, sondern auch Mitteleuropa und Nordamerika. Denn dorthin sind Russlands Atomraketen gerichtet.
Ist also der Kampf für die Freiheit der Ukraine einen bewusst oder versehentlich ausgelösten atomaren Weltkrieg wert? Der gesunde Menschenverstand sagt: Nein. Was also tun? Es bleibt nur, durch weitere Waffenlieferungen den Preis des Krieges für Putin nach oben zu treiben. Mehr nicht, so schwer das im Angesicht des mutigen ukrainischen Präsidenten auch fallen mag.