Historische Herausforderung
SPD-Kanzler Olaf Scholz kann sich bisher über hohe Zustimmungswerte freuen – Doch seit Russlands Angriff auf die Ukraine ist nichts mehr, wie es war
Von Andre Bochow
- Olaf Scholz ist nach 100 Tagen nicht nur im Kanzleramt, sondern auch in der Internetwelt angekommen. Man kann ihn auf Facebook, Instagram und YouTube erleben. Sein Sprecher Steffen Hebestreit hatte sogar angekündigt, dass Scholz „demnächst TikTok tanzen wird“, aber das Projekt wurde offenbar erst einmal hinten angestellt. Dafür ist Scholz der erste Kanzler, der twittert. „Ich bin Bundeskanzler geworden mit dem Anspruch, meine Politik zu erklären“, begrüßte er die KanalGemeinde. Erklärungen sehen dann so aus wie etwa die zum UkraineKrisengipfel in Versailles. „Das Wichtigste, das von diesem besonderen Gipfel ausgeht: Wir haben den festen Willen zusammenzustehen und diese Krise zu meistern.“Niemand kann aus seiner Haut.
Trotzdem ist Olaf Scholz nicht nur Kanzler, sondern, laut ZDFPolitbarometer, derzeit auch beliebtester Politiker im Land. Die SPD steht in den Umfragen gut da. Und im Saarland, wo am 27. März gewählt wird, sieht es nach einem SPD-Sieg aus. Olaf Scholz könnte normalerweise mit Genugtuung auf den Beginn seiner Regierungszeit zurückblicken. Aber es ist eben nichts mehr normal, seitdem der Neo-Stalin Wladimir Putin seine Armee in die Ukraine einmarschieren ließ.
„Das, was Olaf Scholz und mit ihm die gesamte Koalition derzeit politisch zu bewältigen haben, stellt alles, was vorangegangene Koalitionen in ihren ersten 100 Tagen erleben mussten, weit in den Schatten“, sagt der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Der Redakteur der „Blätter für deutsche und internationale Politik“hält allenfalls die Situation, in der sich Konrad Adenauer nach dem Zweiten Weltkrieg befand, für vergleichbar. Es gebe sogar Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Kanzlern. „Adenauer war ähnlich wortkarg und hoch sachbezogen und zugleich (ebenfalls) nicht gerade empathisch – was in dieser Krisensituation bereits ein Problem darstellt.“
Ein Mangel an Empathie ist nicht das Erste, was Brandenburgs Ministerpräsident
Dietmar Woidke zu seinem Parteifreund Scholz einfällt. Aber auch er sagt: „Größere Herausforderungen beim Start ins Amt des Bundeskanzlers hätte man sich gar nicht vorstellen können. Pandemiebekämpfung vom ersten Tag an, und jetzt ein Krieg hier bei uns in Europa.“
Am Anfang der 100 Tage AmpelRegierung wurde noch darüber diskutiert, wie die Formulierung im Koalitionsvertrag zu verstehen sei, Deutschland solle „idealerweise“schon bis 2030 aus der Kohle aussteigen. In einem Interview mit der „Zeit“sprach Scholz davon, die Zwanzigerjahre zu einer „Zeit des Aufbruchs“machen zu wollen. Es gehe um die industrielle Modernisierung. „Das ist das wahrscheinlich ehrgeizigste Modernisierungsprojekt,
das Deutschland seit mehr als 100 Jahren verfolgt“, sagte er. Seit dem 24. Februar dieses Jahres ist klar, dass erst einmal etwas ganz anderes modernisiert oder besser gesagt: Erneuert werden muss – unsere Vorstellungen von der Weltordnung. Bei der Modernisierung steht nun die Armee im Mittelpunkt.
Scholz, der nach eigenem Bekunden „nüchtern, pragmatisch und entschlossen ist“, hat es dann geschafft, im Bundestag gleich zu Beginn seiner Amtszeit eine wirklich historische Rede zu halten. Er hätte wohl gern darauf verzichtet.
Am 27. Februar tritt der Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen. Erstmals tagt das Parlament an einem Sonntag. Um 11.07 Uhr erteilt die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas dem Bundeskanzler das Wort. Er kommt im Anzug. Vergessen ist „Pullover-Gate“, obwohl der legere Auftritt auf dem Flug zum US-Präsidenten Joe Biden gerade einmal zwei Wochen zurückliegt. Vergessen auch, wie dann der deutsche Regierungschef neben Biden stand, der gerade die Erdgasleitung Nord Stream 2 verbal auf den Müllhaufen der Geschichte warf, während Olaf Scholz den Namen der neuen Gastrasse nicht über die Lippen brachte.
Jetzt, drei Tage nach Kriegsbeginn, spricht Scholz von einer „Zeitenwende“. Das viel zu oft benutzte Wort entfaltet neue
Wucht. „Kriegstreiber“wie Putin müssten in die Schranken gewiesen werden. Alle im Saal klatschen.
„Das setzt eigene Stärke voraus“, sagt Scholz.
Scholz wirkt geradezu kämpferisch. Er spricht vielleicht eine Spur lauter als sonst und ein klein wenig tiefer. „Wir nehmen die Herausforderungen an, vor die uns die Zeit gestellt hat“, sagt der 63-Jährige. „Nüchtern und entschlossen“will er in der von Präsident Putin geschaffenen „neuen Realität“reihenweise Tabus brechen. Dazu gehören Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet, auch Drohungen: „Der Krieg ist eine Katastrophe für die Ukraine, aber er wird sich auch als Katastrophe für Russland erweisen.“Und dann kommt es knüppeldick: „Ohne Wenn und Aber“stehe man zur
Beistandspflicht in der Nato. „Jeder Quadratmeter des Bündnisgebietes“solle verteidigt werden. Wer wie Scholz „stundenlang“mit Putin gesprochen hat, weiß: „Putin will ein russisches Imperium errichten.“Deswegen müsse die Bundeswehr aufgerüstet werden. „Dafür werden wir ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten.“
Zumindest in den Reihen der Grünen und der SPD gibt es erste irritierte Blicke. Als Scholz verkündet, das Sondervermögen werde 100 Milliarden Euro betragen und „wir werden von nun an, Jahr für Jahr, mehr als zwei Prozent des Bundesinlandsproduktes für die Bundeswehr einsetzen“, geschieht etwas Seltsames. Viele Unionsabgeordnete springen auf und klatschen. Sie wirken ehrlich begeistert. Worüber?
In der ersten Reihe der Sozialdemokraten beugt sich derweil Fraktionsgeschäftsführerin Katja Mast zu ihrem Vorsitzenden Rolf Mützenich. Der schüttelt den Kopf. Nein, er wusste nichts von diesem Aufrüstungsplan. Dabei hatte Olaf Scholz in der Fraktionssitzung, die kurz vor der Bundestagsdebatte abgehalten worden war, gesprochen. Aber eben nicht alles gesagt. Scholz ist nun ein Politiker, „der von seiner Partei Folgebereitschaft verlangt und in der Ampel langwierige Entscheidungsprozesse vermeidet“, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer. „Er kommt damit auch den Erwartungen einer Mehrheit in der Bevölkerung nach.“
Auch Axel Schäfer, ein sozialdemokratisches Urgestein, hat Verständnis für den Alleingang. „Schwere Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen.“Der Bochumer erinnert sich daran, dass die Scholz’sche Überrumpelung mindestens ein historisches Vorbild hat. „Als Gerhard Schröder die Agenda 2010 im Bundestag verkündete, kannten wir die Details auch nicht.“Historische Vergleiche hinken zwar oft, aber das erste Grummeln über Aufrüstung und die wachsende Bedeutung des Militärischen erinnerte an den Agenda-Aufruhr.
Dem Politologen Albrecht von Lucke fällt wieder Adenauer ein, der sich derart „einsame Entscheidungen in einer hochautoritären Gesellschaft in vielen Fällen leisten konnte“. Zwar mache die „Ausnahmesituation eines Krieges vieles möglich“, aber die Zeiten hätten sich hierzulande dann doch geändert. Noch einmal könne Scholz Partei und Fraktion nicht vor den Kopf stoßen. Dessen größte Schwäche sei, anders als bei Twitter verkündet, „seine schwach ausgeprägte Kommunikationsund Erklärungsfähigkeit“. Die ersten 100 Ampel-Tage hätten seine Neigung zu „im kleinen Kreis diskutierten, aber letztlich allein getroffenen Entscheidungen verstärkt“. Scholz müsse aufpassen, dass er sich an dieses „Durchregieren“nicht gewöhnt. Das könne er sich gar nicht leisten, glaubt Gero Neugebauer. „Da auch in der Koalition der Parteienwettbewerb stattfindet und demnächst Landtagswahlen abgehalten werden, muss die SPD als geschlossene Partei auftreten, um als handlungsfähig zu gelten“, sagt der Politikwissenschaftler.
Möglicherweise lernt Scholz auch in dieser Frage schnell hinzu. Als der Kanzler am 1. März dieses Jahres zur Reise nach Israel aufbrechen will, lässt er die Delegation eine Weile warten. Dann kommt er mit dem Hubschrauber in Schönefeld an. Die Verspätung erklärt er mit einer langen Sitzung der Bundestagsfraktion. Es habe großen Gesprächsbedarf gegeben. Wegen der künftigen Kosten für die Bundeswehr.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)
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