„Testung symptomloser Kinder kritisch hinterfragen“
Stiko-Chef Mertens bemängelt Corona-Beschränkungen für Jüngere und die geplanten Lockerungen für alle
- Thomas Mertens, der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), zieht die massenhaften CoronaTests bei symptomlosen Schulkindern stark in Zweifel. Deren Nutzen und die Konsequenzen für die Kinder müssten neu überdacht werden. Im Interview kritisiert der Ulmer Virologe außerdem die geplanten Lockerungen bei den Corona-Schutzmaßnahmen durch die Ampel-Koalition.
Die Corona-Inzidenzen steigen derzeit wieder deutlich an. Ist in diesem Zusammenhang der zum 20. März angekündigte Wegfall der meisten Schutzmaßnahmen aus Ihrer Sicht angezeigt?
Der aktuell erneute Anstieg der Infektionszahlen bei Sars-CoV-2 kommt nicht ganz überraschend. Zum einen hat die Mobilität der Menschen wieder zugenommen. Im Durchschnitt sind wir auch bereits weniger vorsichtig, was unser Kontaktverhalten angeht. Zum anderen hat sich die Omikron-Subvariante BA.2 bereits stark ausgebreitet, die noch leichter übertragbar ist. Im Augenblick beobachtet man ein gewisses Auseinanderklaffen zwischen dem tatsächlichen Infektionsgeschehen in unserem Land und der bei den Menschen gefühlt geringeren Bedrohung. Ich hatte früher bereits gesagt, dass die Lockerungen der Schutzmaßnahmen vom Verlauf der Pandemie abhängig gemacht werden sollten. Das stimmt weiterhin, denn zu hohe Inzidenzen bedeuten letztlich doch mehr schwere Erkrankungen bei Menschen mit Risiko, aber zum Beispiel auch viele infektionsbedingte Ausfälle beim medizinischen Personal. Darunter leidet die Versorgung in vielen Kliniken, derzeit gerade in Norddeutschland. Das ist auch angesichts der beginnenden Flüchtlingswelle mit vielen Menschen, die medizinisch versorgt werden müssen, schlecht. Wir sollten jetzt nicht alle Schutzmaßnahmen beenden.
Die in den Novavax-Impfstoff gesetzten Hoffnungen zur weiteren Erhöhung der Impfquote scheinen sich nicht zu erfüllen. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht für den weiteren Verlauf der Pandemie?
Es ist sehr schade, dass der Fortgang der Impfungen nicht – wie in anderen Ländern – auch bei uns viel besser ist. Das ist unvernünftig und leider auch riskant, denn wir erreichen die unbedingt anzustrebende Grundimmunität in der Bevölkerung jetzt nicht zügig vor dem kommenden Herbst. Am 15. März sind 75,7 Prozent der Gesamtbevölkerung und 88,7 Prozent der über 60Jährigen grundimmunisiert. Bei den über 60-Jährigen sind noch etwa zwei Millionen nicht geimpft. Auch wenn viele unsinnige und falsche Behauptungen kursieren, ist es so, dass die Impfung unser entscheidendes
Instrument ist, um schwere Erkrankungen und Krankenhausbehandlungen, vor allem bei älteren und vorerkrankten Menschen, zu verhindern. Das wurde in vielen Studien international sehr gut und zweifelsfrei gezeigt. Dies stimmt selbst dann, wenn mehrfache Infektionen – in aller Regel ohne schwere Erkrankungen – möglich sind.
Studien zeigen, dass Kinder erheblich unter den Folgen der Pandemie leiden. Was muss getan werden, um Kinder besser vor den Auswirkungen der Pandemie zu schützen? Wird es in absehbarer
Zeit eine allgemeine Impfempfehlung der Stiko auch für Kinder geben?
Es besteht kein Zweifel daran, dass Kinder in der Pandemie besonders gelitten haben, und dies führt zu körperlichen und psychischen Folgen. Allerdings ist das kaum durch die Virusinfektion selbst bedingt, sondern ganz vorwiegend durch die Isolierungsmaßnahmen einschließlich der Schulschließungen. Die Stiko spricht sich seit Langem zum Beispiel nachdrücklich dafür aus, dass der Zugang von Kindern und Jugendlichen zur Teilhabe an Bildung, Kultur und anderen Aktivitäten des sozialen Lebens frei sein muss und auch nicht vom Vorliegen einer Impfung abhängig gemacht werden soll. Im Jahr 2022 müssen bei den meist unkomplizierten Krankheitsverläufen bei Kindern pandemiebedingte Einschränkungen für Kinder und Jugendliche sehr kritisch hinterfragt und weitestgehend zurückgenommen werden. Dies gilt meiner Meinung nach jetzt auch hinsichtlich der fortlaufenden „Testung“symptomloser, klinisch gesunder Kinder. Das ist ja eine einmalige Vorgehensweise bei dieser Sars-CoV-2-Infektion, die bei keiner anderen Infektionskrankheit so durchgeführt wird. In der derzeitigen epidemiologischen Situation muss der Nutzen dieser Maßnahme mit den möglichen Konsequenzen für die Kinder sehr kritisch neu überdacht und überprüft werden.