Lindauer Zeitung

Kunst als Heimat

Emine Özdamars „Ein von Schatten begrenzter Raum“spielt zwischen Istanbul und Berlin

- Von Lisa Forster

Als Emine Sevgi Özdamar 1976 Istanbul verlässt, beherrscht das Militär die türkische Gesellscha­ft. Özdamar, Schauspiel­erin und Mitglied der Arbeiterpa­rtei, hat dort keine Zukunft und geht nach Berlin. Sie arbeitet am Theater, streift durch die Straßen, lebt und liebt und sorgt sich, und wird letztlich Schriftste­llerin. Doch obwohl sie schon 1991 den Ingeborg-BachmannPr­eis gewinnt, kommt sie nie auf dieselbe Weise im deutschen Literaturk­anon an wie viele ihrer Zeitgenoss­en. Das könnte sich jetzt ändern.

Mit ihrem autobiogra­fisch geprägten Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“war die 1946 geborene Autorin für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Es ist ein Buch, das in verschwend­erischer Fülle von einem Leben im Nachkriegs­europa erzählt, von den 1970er-Jahren in Berlin, den bürgerkrie­gsähnliche­n Zuständen in der Türkei bis zur heutigen Zeit.

Auf 750 Seiten spricht die Protagonis­tin von einem Leben, in dem die Kunst Menschen über Grenzen hinweg verbindet. Man trifft sich, um die ganze Nacht über Shakespear­e zu diskutiere­n oder Godard. Vagabundie­rt von Wohnung zu Wohnung, trifft überall auf befreundet­e Künstlerin­nen und Intellektu­elle.

„Ein von Schatten begrenzter Raum“ist ein sagenhafte­r, poetischer Roman, aus dem oft die Verzweiflu­ng über Krieg oder Nationalis­mus spricht, der am Ende aber doch die Welt und deren Bewohner zelebriert.

Es beginnt damit, dass die Erzählerin von einer türkischen Insel auf Lesbos und damit Europa blickt. Gleich ist ein Ton gesetzt, der den Roman bestimmen wird: surreal, manchmal ein bisschen wie ein absurdes Theaterstü­ck. Die Erzählerin führt ein Zwiegesprä­ch mit Krähen, die Zweifel an ihren Plänen nähren, in Berlin ein neues Leben zu starten. Schließlic­h aber macht sie sich dennoch auf, um über das Meer nach Europa zu laufen.

Wir folgen der Protagonis­tin nach Berlin. Sie nennt es „Draculas Grabmal“und zählt dort die Häuser, die von Bomben zerstört wurden. Die Stationen ihres Lebens stimmen, soweit man das von außen beurteilen kann, mit Özdamars Leben überein. Sie arbeitet als Regieassis­tentin unter anderem mit dem Brecht-Schüler Benno Besson. Das Theater wird ihr zu einer Heimat.

Der theoretisc­he Einfluss Brechts und seiner Schüler wie Heiner Müller

(den Özdamar kannte) wird deutlich. Speziell die Idee, dass sich die Gewaltgesc­hichte eines Landes fortsetzt, wenn sie nicht aufgearbei­tet wird. Das gilt für Deutschlan­d ebenso wie für die Türkei. So heißt es an einer Stelle: „Das Schweigen über die Toten, die keine Gräber haben, erzeugt nur neue Gewalt …“Telefonier­t die Protagonis­tin mit ihren Eltern in der Türkei, hört sie die Militärhub­schrauber über Istanbul kreisen. Wenn sie Mutter und Vater besucht, raten sie ihr, sich nicht vor die Fenster zu setzen – wegen der Gefahr, dann leichter erschossen zu werden. Ende der 1970er-Jahre herrschten in Teilen der Türkei bürgerkrie­gsähnliche Zustände. Die politische­n Morde, Anschläge und Ausschreit­ungen sind immer wieder Thema. Die Mutter der Erzählerin sammelt in einem Schuhkarto­n Todesmeldu­ngen aus der Zeitung.

Und in Berlin? Macht die „Hölle eine Pause“, heißt es im Buch. Die Erzählerin streift durch die Straßen, verbringt die Tage im Theater. Für eine Zeit zieht sie nach Paris, lernt die französisc­he Sprache mit Edith Piafs Texten, arbeitet an einer Brecht-Inszenieru­ng, zieht durch die Cafés, verliebt sich. Schließlic­h landet sie in Bochum und arbeitet dort am Schauspiel­haus. Anfang der 1980er schreibt sie ihr erstes Theaterstü­ck.

Es folgen Auftritte als Schauspiel­erin, weitere Theaterstü­cke, Erzählunge­n und Romane. Alles wird in „Ein von Schatten begrenzter Raum“rekapituli­ert. Auch die Rezeption ihres Werkes in Deutschlan­d ist Thema, das immer wieder auf ihre türkische Herkunft reduziert wurde. Dabei sind Özdamars Texte viel zu ausufernd und experiment­ell, inspiriert von türkischer Literatur genauso wie von französisc­hem Kino oder deutschem Theater, um sie auf ein Thema zu reduzieren.

Es ist jedenfalls so beklemmend wie inspiriere­nd, was die Autorin ihren Leserinnen und Lesern in „Ein von Schatten begrenzter Raum“zumutet. Man ist erschütter­t über die politische­n Beschreibu­ngen der Vergangenh­eit und Gegenwart und angesteckt von der Lebendigke­it ihrer Erzählunge­n. (dpa)

Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum, Suhrkamp Verlag, 763 Seiten, 28 Euro.

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FOTO: IMAGO IMAGES Emine Sevgi Özdamars Künstlerin­nen-Roman ist so beklemmend wie inspiriere­nd.
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