Lindauer Zeitung

Die Welt von gestern, die Konflikte von heute

Der Historiker Eugene Rogan beschreibt den Zusammenbr­uch des Osmanenrei­chs

- Von Reinhold Mann

Das Buch des US-amerikanis­chen Historiker­s Eugene Rogan „Der Untergang des Osmanische­n Reichs“ist im englischen Original bereits 2015 erschienen. Damit steht es in Zusammenha­ng mit all den Publikatio­nen, die an den Ersten Weltkrieg vor 100 Jahren erinnert haben. Der Erscheinun­gstermin bezog sich auf den Angriff auf die Dardanelle­n, mit dem die

Briten 1915 Istanbul im Handstreic­h zu nehmen gedachten. Marinemini­ster Winston Churchill wollte sich mit diesem Unternehme­n politisch in Szene setzen, verursacht­e aber eine Katastroph­e.

Sie ist als „Schlacht von Gallipoli“im Commonweal­th ein Begriff. Vor allem Soldaten aus Australien und Neuseeland kamen hier ums Leben. Riesige Friedhöfe erinnern daran. Auch ein Vorfahre des Autors ist hier begraben.

Umso mehr strahlte die Siegerseit­e: Mustafa Kemal Atatürk, der damals im osmanische­n Heer als Offizier diente, begründete in Gallipoli seinen Ruf als Kriegsheld. Bis dahin galt das Osmanenrei­ch als leichte Beute. Die Großmächte des 19. Jahrhunder­ts sprachen vom „kranken Mann am Bosporus“. Im Krimkrieg (1853-1856) hatten Frankreich und England den Sultan noch unterstütz­t, aber im ausgehende­n 19. Jahrhunder­t musste er eine militärisc­he Niederlage nach der anderen hinnehmen. Die Osmanen suchten Hilfe. Man bestellte Kriegsschi­ffe in England und beauftragt­e preußische Generäle mit einer Armeerefor­m. Otto Liman von Sanders, dem diese Aufgabe zugefallen war, organisier­te dann auch als osmanische­r Marschall die Verteidigu­ng der Dardanelle­n.

Eugene Rogan erzählt die Geschichte des Ersten Weltkriegs im Osmanische­n Reich mit der Spannung und der Souveränit­ät eines Romanciers. Es ist eine reine Ereignisge­schichte, sie will Abfolge und Zusammenhä­nge der Geschehnis­se erst einmal rekonstrui­eren. „Nach einem Jahrhunder­t der Forschung verfügen wir über ein umfassende­s Wissen über die alliierte Seite der Schützengr­äben. Doch haben wir gerade erst begonnen, die andere Seite anzuschaue­n“, schreibt Rogan. Das ist leichter gesagt als getan, denn das Militärarc­hiv in Ankara sperrt große Teile seiner Bestände für Wissenscha­ftler.

Das Buch macht mit seltener Deutlichke­it klar, dass der Erste Weltkrieg tatsächlic­h ein Weltkrieg war. Das Osmanenrei­ch war für sich genommen schon ein hochkomple­xes Gebilde. Zusätzlich lösten die Balkankrie­ge, die dem Ersten Weltkrieg im europäisch­en Teil des Osmanenrei­chs unmittelba­r vorausging­en, jene Migrations­wellen aus, die Zusammenha­lt und Zusammense­tzung des Vielvölker­staats belasteten und veränderte­n. Und die Alliierten eröffneten viele Fronten - an den Dardanelle­n, in der Kaukasusre­gion, in Mesopotami­en und Palästina – und begrenzten, ja überforder­ten damit die Möglichkei­ten der Osmanen, sich zu verteidige­n.

Das Zarenreich und England nutzten gezielt die Differenze­n und Rivalitäte­n, die es unter den Konfession­en und Völkern im Osmanische­n Reich gab. Der populärste Fall einer solchen Instrument­alisierung innerer Konflikte ist, dank der Verfilmung „Lawrence von Arabien“, die Arabische

Revolte von 1916. Dieser Aufstand setzt bereits eine weitere Veränderun­g in der Sozialstru­ktur des Osmanische­n Reichs voraus: nämlich die Bevorzugun­g des türkischen Bevölkerun­gsanteils gegenüber dem arabischen. Sie wurde unter der Diktatur der „Jungtürken“eingericht­et.

Der spätere König Feisal hat diesen Aufstand militärisc­h angeführt und die 400-jährige Herrschaft der Osmanen in Damaskus beendet. Er strebte die Unabhängig­keit der arabischen Emirate an und erfreute sich britischer Unterstütz­ung, solang er half, die osmanische Armee vom Suezkanal fernzuhalt­en. Aber seine Idee der Unabhängig­keit kollidiert­e mit dem Geheimabko­mmen, in dem England und Frankreich die Aufteilung des Osmanische­n Reichs verabredet hatten. Die war auf den Landkarten schon fein säuberlich in Blauund Rottönen eingezeich­net, bevor die Allianzen mit Beduinen und Arabern zustandeka­men.

So ist Rogans Buch nicht nur die Geschichte einer vergangene­n Epoche, wie der Titel vom Untergang des Osmanische­n Reichs nahelegt. Es ist zugleich ein Buch darüber, wie im Nahen Osten die Konflikthe­rde der Gegenwart entstanden sind.

Eugene Rogan: Der Untergang des Osmanische­n Reichs, wbgTheiss Verlag, 590 Seiten, 38 Euro.

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FOTO: IMAGO IMAGES Mit der Schlacht von Gallipoli wollten die Briten 1915 das Osmanische Reich im Handstreic­h einnehmen. Doch es kam anders.
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