Wenn nachts plötzlich wieder Sirenen heulen
Was der Ukraine-Krieg mit Lindaus Ehrenbürgerin Anneliese Spangehl macht
- Bomben, verwundete Menschen, weinende Kinder: Wenn Anneliese Spangehl die Bilder vom Krieg in der Ukraine sieht, dann ist alles wieder da. Dann ist sie wieder das 17-jährige Mädchen mit dem blauen Kleid, dem braunen Mantel und den viel zu großen Stiefeln, das im Arbeitsdienst in überfüllten Bunkern Tee ausschenkt, während Tiefflieger Bomben über München abwerfen. Sie hört oben die Einschläge und unten die Kinder weinen. Sie sieht die vielen zusammengepferchten Menschen, Alte, Junge, Mütter mit Kindern, Kranke und verwundete Soldaten. Und sie spürt wieder diese große Angst. „Was man als junges Mädchen erlebt hat, vergisst man nicht“, weiß die Lindauerin.
Anneliese Spangehl ist fast 95 Jahre alt. Sie durfte mehr als 70 Jahre Frieden und trotz mancher Schicksalsschläge ein erfülltes Leben erleben. Die Erinnerungen an die Kriegszeit verblassten und machten vielem Schönem Platz. Nun ist der Krieg wieder da. In der Urkraine, in den Medien, aber auch in ihrem Kopf. „Ich bin tieftraurig und erschüttert, dass so was bei uns mitten in Europa passieren kann“, sagt Lindaus Ehrenbürgerin. Und sie ist auch wütend über diesen Bruch des Völkerrechtes, darüber, dass Putin ohne jeglichen Anlass ein „friedliches Land überfällt“. Nie hätte sie gedacht, dass das passiert. Man habe Putin vermutlich zu lange vertraut, ihn für einen Demokraten gehalten. Jetzt zeige sich: Er ist „grausam und unberechenbar“.
Die Sonne scheint, am Seehafen füllen sich die Cafés, es wirkt wie immer. Doch die heile Welt hat Risse bekommen. Auch in Lindau sind die ersten Geflüchteten aus der Ukraine angekommen. Frauen mit Kindern, die nicht wissen, wann und ob sie ihre Männer und Väter wiedersehen werden.
Anneliese Spangehl weiß, wie sich diese Sorge anfühlt. Und sie weiß, wie schmerzhaft ein Verlust sein kann. Im Zweiten Weltkrieg starb ihre Jugendliebe und mit ihm alle Träume von einer glücklichen gemeinsamen Zukunft. Sie trauerte um zwei Cousins, einer fiel in Russland, der andere wurde einen Tag nach Kriegsende auf der Flucht erschossen. Auch zwei Onkel kehrten nicht zurück. Für die fast 95-Jährige sind all die guten Jahre, die Deutschland
ohne Krieg erlebt hat, nicht selbstverständlich. „Frieden ist ein Geschenk“, sagt Spangehl immer wieder. Eines, für das man dankbar sein, für das man aber auch etwas tun müsse. Als Lehrerin habe sie immer versucht, ihren Kindern das zu vermitteln. „Ich glaube, wir haben den Frieden als zu selbstverständlich angesehen“, sagt sie heute. Dabei habe es ja immer Kriege auf der Welt gegeben, aber eben „weit weg“. Dass jetzt mitten in Europa Kinderkliniken bombardiert und Babys in Kellern zur Welt kommen müssen, erschüttert die Lindauerin. Unter Putins Krieg leide vor allem die Zivilbevölkerung. Doch Anneliese Spangehl tun auch die russischen Soldaten leid. „Die denken, dass sie in ein Manöver gehen und müssen kämpfen.“
Hoffnung macht ihr, dass Europa zusammensteht und die Hilfsbereitschaft groß ist. Aber als Pädagogin weiß sie, dass es nicht damit getan ist, diese Menschen nur hierher zu bringen. Sie müssten auch gut betreut werden. Und sie hofft, dass die Stimmung nicht umschlägt, wenn die Menschen in Deutschland die Auswirkungen des Krieges deutlich im Geldbeutel spüren, weil alles teurer wird.
Wenn ihre Patenkinder eine Arbeit in der Schule schreiben und nach ihren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg fragen, gibt Anneliese Spangehl Auskunft. Aber eigentlich spricht sie nicht mehr gern über den Krieg. „Man muss es mit sich selber ausmachen“, sagt sie. Damit meint die 95-Jährige auch den Tag, als im überfüllten Bunker das Notaggregat ausgefallen ist und der Sauerstoff knapp wird. Oder den Bombenangriff auf ihren Zug, den sie überlebt, bei dem aber ihre Kollegin stirbt.
Anneliese Spangehl weiß, wie gefährlich die Lage momentan ist. Sie hat Angst davor, dass Putin „irgendetwas als Grund nimmt“, um noch einen Schritt weiter zu gehen. Dabei sei sein Land doch groß genug. Er solle doch lieber schauen, dass es seinem Volk gut geht, meint Lindaus Ehrenbürgerin.
Nachrichten in Dauerschleife erträgt sie nicht. Spangehl weiß, dass sie sich schützen muss. „Es muss ja unser Leben auch wieder weitergehen.“Wenn es ihr schlecht geht, tut sie, was ihr schon immer geholfen hat: Sie schaut auf den See, genießt die Aussicht oder liest. Auch gute Gespräche mit der Verwandtschaft geben ihr neuen Mut.
Doch nicht immer gelingt es ihr abzuschalten. Dann hört sie nachts Sirenen heulen und den Geschützdonner von Flaks. „Da meint man nach über 70 Jahren es ist vorbei, aber es kommt wieder“, sagt Spangehl kopfschüttelnd. Was sie dann macht? „Still werden und beten.“Dass die Menschen in der Ukraine durch humanitäre Korridore gerettet werden und Deutschland nicht in den Krieg verwickelt wird.