Grußkarten statt Hausbesuche
Statt zu klingeln, werfen die Zeugen Jehovas selbst gestaltete Karten in die Briefkästen
- Zwei selbst gebastelte Wolken aus Karton zieren die Grußkarte. Darunter hat eine sorgfältige Hand Regentropfen gezeichnet, die auf folgende Frage „fallen“: „Was tun, wenn Sorgen und Probleme wie Regen niederprasseln?“Man fragt sich: „Wer hat mir wohl so eine nette Karte geschrieben?“Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Die Post stammt von den Zeugen Jehovas. Viele Menschen, die solch einen Umschlag erhalten, wundern sich vermutlich sehr, was es damit auf sich hat und wie die Religionsgemeinschaft an die Adresse gekommen ist. Die „Allgäuer Zeitung“hat nachgefragt.
Die Zeugen Jehovas in Kempten bestehen aus fünf Gemeinden: vier deutsche und eine russische. Bis vor Kurzem habe es auch noch eine italienische Gemeinde gegeben, sagt Pamela Hilbig, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. „Wir wollen für andere keine Gefahr sein und niemanden anstecken.“Aus Nächstenliebe finden Gottesdienste deshalb digital statt. Und statt der Hausbesuche würden viele Gemeindemitglieder Briefe oder Karten schreiben. Bei der Gestaltung oder der Wahl des Themas sei man ganz frei. „Etwas, von dem man denkt, es könnte anderen Mut machen.“
Und woher stammen die Adressen? „Uns stehen nur die öffentlichen Möglichkeiten zur Verfügung, wie das Telefonbuch oder das Kemptener Adressbuch, in dem auch Vornamen abgedruckt sind.“Hilbig betont: „Wir haben nur gute Absichten.“Zeugen Jehovas hätten ein „unglaubliches Bedürfnis“, Menschen vor dem Weltuntergang zu retten, erklärt Klaudia Hartmann vom Fachbereich Religions- und Weltanschauungsfragen des Bischöflichen Ordinariats der katholischen Kirche in Augsburg. Ein Hausbesuch oder ein Brief bedeute, dass die jeweilige Person „Zeugnis von Jehova gibt“.
Das zähle zum sogenannten Predigtdienst. Barbara Kohout erinnert sich, dass auch schon früher mit persönlichen Briefen etwa auf Todesanzeigen reagiert wurde. Die 83-Jährige Augsburgerin ist 2009 aus der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas ausgestiegen. „Die Menschen sind dann in einem emotionalen Ausnahmezustand.“Ihrer Ansicht nach ist das auch einer der Gründe der Zeugen Jehovas, während der
Pandemie persönliche Werbepost zu verteilen. „Über das Gefühl ist jeder ansprechbar.“
Kohout berichtet auch, dass „Adressen sammeln“während ihrer Zeit in der Gemeinschaft Pflicht gewesen sei. Wie das heute, in Zeiten der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) gehandhabt werde, wisse sie nicht. Andreas Winkler von der Kemptener Beratungsstelle der Verbraucherzentrale Bayern zählt die Briefe und Karten der Zeugen Jehovas als nicht addressierte Werbepost, auch wenn eine Adresse angegeben ist. Denn die Umschläge würden vom Absender selbst in die Briefkästen geworfen. Der Unterschied zur adressierten Werbepost sei, dass die Post-Mitarbeitenden verpflichtet seien, die Sendungen zuzustellen. Winkler betont, dass Empfänger und Empfängerinnen aus datenschutzrechtlicher Sicht einen Auskunftsanspruch haben. Das heißt, sie könnten sich beim Absender – in dem Fall bei den Zeugen Jehovas – melden und nachfragen, welche Daten erfasst sind und woher diese stammen. Auch die Löschung dieser Daten könne man einfordern.
Tatsächlich sind die Grußkarten und Briefe der Religionsgemeinschaft häufig mit einer AntwortAdresse versehen. Bei der Kontaktaufnahme sollte man aber darauf achten, dass man nicht noch mehr Daten preisgibt als ohnehin schon bekannt sind, rät Winkler. „Lieber gar nicht darauf reagieren.“