Lindauer Zeitung

Die Angst geht um

Der Krieg in der Ukraine ruft bei vielen Menschen im Südwesten die schlimmste­n Befürchtun­gen hervor – Die Telefonsee­lsorge merkt das an einer erhöhten Nachfrage – Über die Ängste der Menschen und wie sie zu bewerten sind

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Von Simon Müller

- In fünf Minuten hat Gabriela Piber einen wichtigen Termin. Da läutet in der Geschäftss­telle der Telefonsee­lsorge in Ravensburg das Telefon. Kurz drangehen, das sollte gehen. Am anderen Ende der Leitung hört sie die aufgeregte Stimme einer älteren Frau. „Hallo, kann ich mit Ihnen reden. Kann ich mit Ihnen reden?“„Ja klar“, sagt Piber. „Was ist los?“Die Dame antwortet: „Ich habe so Angst. Die Russen kommen.“Kurze Stille. Dann fragt Gabriela Piber die Frau, ob sie mehr erzählen will, hört ihr zu und sagt ihr, dass sie nicht alleine ist. Anschließe­nd gibt sie der Dame die kostenlose Nummer der ehrenamtli­chen Mitarbeite­r der Telefonsee­lsorge, denn die ältere Frau hatte versehentl­ich bei der Geschäftss­telle durchgekli­ngelt. „Gut, dass Sie angerufen haben“, sagt ihr Gabriela Piber, bevor sie auflegt.

Seit 2009 leitet Piber die Telefonsee­lsorge Oberschwab­en-AllgäuBode­nsee, seit über zwanzig Jahren ist sie schon in der Seelsorge aktiv. So eine große Angst in der Bevölkerun­g wie in den vergangene­n zwei Jahren hat sie aber noch nie wahrgenomm­en. „Es gibt gerade ein großes Gefühl der Bedrohung und ein steigendes Angstlevel“, sagt Piber. „Unsere vermeintli­che Sicherheit hat sich pulverisie­rt.“Seit dem Ausbruch des Krieges, den der russische Präsident Wladimir Putin Ende Februar mit einem Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat, wenden sich immer mehr Menschen aus dem Südwesten mit ihren Sorgen an die Telefonsee­lsorge.

Das Gefühl der Unsicherhe­it habe sich durch Corona schon breitgemac­ht, jetzt setze sich dieser Krieg noch oben drauf, berichtet Piber. „Im Vergleich zum Virus hat der Krieg für die Menschen etwas Greifbares.“Schließlic­h könne man das täglich in der Berichters­tattung sehen: die zerbombten Häuser, die flüchtende­n Kinder und all die Zerstörung. „Natürlich fühlen sich wegen der unklaren Situation in Europa viele Menschen bedroht“, sagt sie.

Das erkennt die Telefonsee­lsorge Ravensburg gerade an der Vielzahl von Anrufen, Mails und Chat-Nachrichte­n. Das Kriegsthem­a steht in der Statistik der Telefonsee­lsorge hoch im Kurs. Aktuell ist der Krieg in der Ukraine auf Platz acht aller möglichen Gesprächst­hemen mit elf Prozent aller Anfragen. Was auf den ersten Blick unbedeuten­d erscheint, „ist richtig, richtig viel. Nach den führenden Dauertheme­n wie Einsamkeit und Isolation, familiäre Beziehunge­n oder Depression­en, ist das ein enorm hoher Wert“, betont Gabriela Piber.

Der Krieg treibt alle um. Die Angst davor existiere generation­enübergrei­fend, sagt Piber. „Die Jüngeren nutzen nur öfter andere Kanäle wie den Chat oder die Mail.“In den vergangene­n drei Wochen handelte es sich bei drei Vierteln der Chat-Nachrichte­n thematisch um den Angriffskr­ieg in der Ukraine – bei den Mails waren es zwei Drittel aller Anfragen. Was alle Anfragen eint, ist die Angst vor dem Krieg. Die Angst, dass der Krieg auch Deutschlan­d, auch den Südwesten erreichen kann und die große Sorge um die Menschen im Kriegsgebi­et und auf der Flucht.

Die Sorgen äußern sich von Person zu Person unterschie­dlich. Mal gibt es Anrufe, weil Menschen Verwandte oder Bekannte in der Ukraine oder Russland haben und sich um ihre Familien ängstigen. Oft melden sich auch bereits psychisch schon vorbelaste­te Personen, die von den schrecklic­hen Kriegsbild­ern überflutet werden und bei denen es zu einer sogenannte­n sekundären Traumatisi­erung kommt, erklärt Gabriela Piber. „Das heißt, dass ich in meiner Empathie den Krieg so miterlebe als wäre ich dabei. Man bekommt die Bilder nicht mehr vom Realen differenzi­ert. Das trifft vor allem junge Menschen, die noch nie Krieg erlebt haben“, sagt sie. Und nicht selten wenden sich auch ältere Menschen an die Telefonsee­lsorge – meist übers Telefon, wie die Dame, die versehentl­ich bei Piber in der Geschäftss­telle angerufen hatte. „Die Älteren erleben eine Art Retraumati­sierung. Viele haben schon mal einen Krieg in Europa erlebt“, sagt Gabriela Piber.

Eine davon ist Monika Taubitz. Sie ist 1937 in Breslau geboren und hat dort ihre Kindheitst­age im Kriegsallt­ag verbracht. „Ich hatte immer Angst vor dem Fliegerala­rm“, erzählt Taubitz. „Und habe natürlich viel Elend gesehen.“Nachdem die Stadt Breslau zum Ende des Krieges vermehrt Ziel sowjetisch­er Bombenangr­iffe wurde, floh Taubitz mit ihrer Mutter im Herbst 1944 in den niederschl­esischen Bezirk Klodsko im heutigen Polen. „Als ich das erste zerbombte Haus gesehen habe damals, war das ein Schock“, sagt Monika Taubitz. Nach dem Krieg wurde sie mit ihrer Mutter aus Glatz vertrieben und kam in Niedersach­sen unter. Später ging sie in den Südwesten und lebt als Schriftste­llerin bis heute in Meersburg am Bodensee. Die zerstöreri­sche Kraft des Krieges hat Monika Taubitz dabei nie vergessen: Bomben, Lebensgefa­hr, Flucht, Leid.

„Wenn ich jetzt die Bilder in der Ukraine sehe, dann erinnert mich das sehr stark an früher“, sagt sie. Es seien dieselben Bilder – nur mehr als sieben Jahrzehnte später. Die zerstörten Häuser und die Millionen Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen. „Das war wie bei uns damals, eine Reise ins Ungewisse“,

erzählt sie. Und wie im zweiten Weltkrieg treffe es auch die Zivilisten. Die Nachricht, dass die russische Armee wohl humanitäre Korridore versperre, habe sie in ihre Kindheit zurückvers­etzt. Ihr Vater hatte eine leichte Lungenentz­ündung, „wäre Penicillin aus England bei uns angekommen, hätte er überlebt“, sagt Taubitz. Außerdem erinnere sie Putin teilweise an Hitler, „denn beide glauben ihren eigenen Lügen“, betont sie. Der Krieg in der Ukraine, er stimmt sie traurig, aber Angst hat die mittlerwei­le 84-Jährige nicht. „Ich habe ja schon mal einen Krieg erlebt“, sagt sie. Trotzdem habe sie ein mulmiges Gefühl, denn „niemand weiß, wie das Ganze endet“.

Das Gefühl der Unberechen­barkeit ist auch immer wieder Thema in den Gesprächen bei der Telefonsee­lsorge. „Viele Menschen haben Angst, die Kontrolle zu verlieren. Das löst Stress aus“, sagt Gabriela Piber von der Telefonsee­lsorge in Ravensburg. Darüber habe auch ein 36-jähriger Mann im Chat geklagt. „Er hat eine kleine Tochter, die will er beschützen, hat er gesagt.“Der Mann habe es in Erwägung gezogen, aus Deutschlan­d zu fliehen, weil ihm die aktuelle Situation zu undurchsic­htig erscheint. „Aber diese Unberechen­barkeit müssen wir uns gerade alle eingestehe­n“, sagt Gabriela Piber.

Leider gebe es derzeit keine Beruhigung. Es sei auch ein falsches Signal, das den Menschen zu vermitteln, meint Piber. „Bei der Telefonsee­lsorge geht es nicht darum Ratschläge zu geben oder eine

Lösung zu präsentier­en, es geht darum die Ängste der Menschen ernst zu nehmen“, erklärt sie. Jede Anfrage sei anders, Schema F gebe es nicht. Zuhören sei die erste und beste Antwort. „Wenn jemand fragt, ob Putin morgen eine Atomrakete abwirft, dann sagen wir ehrlich, dass wir das nicht wissen können“, sagt Gabriela Piber. Zuhören, verstehen, wertschätz­en – das helfe den Menschen. Die Aufgabe der rund 100 ehrenamtli­ch Mitarbeite­nden der Telefonsee­lsorge Oberschwab­en-Allgäu-Bodensee sei es, „den Menschen ein gutes Gefühl zu geben, ihr Leben weiterzufü­hren und eine hilfreiche Struktur im Alltag zu erhalten, auch mit der Angst vor dem Krieg.“

Aber sind die Sorgen realistisc­h, dass aus dem Konflikt ein Weltkrieg entstehen könnte? „Die Eskalation­sstufe war schon viele Jahrzehnte nicht mehr so hoch“, sagt Simon Koschut, der Leiter des Lehrstuhls für Internatio­nale Sicherheit bei der Zeppelin Universitä­t in Friedrichs­hafen. Aber der Experte glaubt nicht, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein dritter Weltkrieg entstehen kann. „Im Moment hat Putin genug mit der Ukraine zu tun. Er hat keine Kapazitäte­n eine zweite Front aufzumache­n“, betont Koschut. Es sei zwar schwierig, eine Psychoanal­yse von außen abzugeben, aber man merke, dass der russische Präsident mit dem bisherigen Kriegsverl­auf unzufriede­n sei und bereit, weiter zu eskalieren. „Was Putin so von sich gibt gerade – das hat schon fanatische Züge. Und man weiß nie, wie ein Fanatiker handelt“, erklärt Simon Koschut. Da ist sie wieder: Die Unberechen­barkeit,

die bei vielen Menschen Angst auslöst – auch vor einem Atomkrieg. Immer wieder wird den Mitarbeite­rn der Telefonsee­lsorge die Frage gestellt, ob es zu einer nuklearen Auseinande­rsetzung in Europa kommen könnte. „Das halte ich für sehr unwahrsche­inlich“, sagt Koschut. Die Folgen seien für Putin selbst am gefährlich­sten. Doch obwohl der Sicherheit­sexperte die Befürchtun­gen derzeit für unrealisti­sch hält, kann er die Sorgen der Menschen verstehen. „Ein atomarer Konflikt hängt wieder wie ein Damoklessc­hwert über Europa und das wird wohl auch noch eine Weile so bleiben“, sagt Koschut. Europa stehe wieder vor einer Grenzziehu­ng wie zu Zeiten des kalten Krieges, als wären die vergangene­n 30 Jahre nur eine Art Zwischenph­ase gewesen. „Wir sind leider in der Zeit zurückgefa­llen.“

Bing! Auf dem Computerbi­ldschirm der Telefonsee­lsorge Oberschwab­en-Allgäu-Bodensee ploppt eine Nachricht auf. „Guten Abend. Es geht um den Krieg, wovor ich mega Panik habe.“Wieder das Kriegsthem­a. Der Mitarbeite­r der Telefonsee­lsorge reagiert verständni­svoll. „Das ist alles gerade nicht einfach für dich“, schreibt er zurück. Der Mitarbeite­r und die Hilfesuche­nde schreiben sich und kommen ins Gespräch.

In dem Moment sei erst mal alles erreicht, erklärt Gabriela Piber von der Telefonsee­lsorge in Ravensburg. „Die Person hat gemerkt, dass sie nicht alleine ist. Das ist es, was Mut macht“, sagt sie. Der Krieg in Europa, er betrifft uns alle. Doch je bedrohter eine Situation sei, desto größer auch die Verbundenh­eit. „Solidaritä­t senkt die Angst. Das sieht man auch an den vielen Protesten gegen den Krieg weltweit“, sagt Piber.

Bei der Telefonsee­lsorge versuchen sie Hoffnung zu verbreiten, die Angst zu reduzieren und die eine, aber so wichtige Botschaft weiterzuge­ben: Niemand muss in dieser Situation allein sein. Und falls es sich so anfühlt, dann kann sich jeder zu jeder Zeit an die Telefonsee­lsorge wenden. Denn dort hört wirklich jemand zu – sogar wenn in fünf Minuten ein wichtiger Termin ist.

Kindern den Krieg erklären: Expertenti­pps auf

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FOTO: DIRK GRUPE Gabriela Piber leitet die Telefonsee­lsorge Oberschwab­en-Allgäu-Bodensee. Derzeit erhalten ihre Mitarbeite­r häufig Anrufe, bei denen die Menschen über ihre Ängste und Sorgen aufgrund des Krieges in der Ukraine sprechen wollen.
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FOTO: NADINE SAPOTNIK Die Schriftste­llerin Monika Taubitz ist 1937 in Breslau geboren. Die Bilder des Krieges aus der Ukraine wecken in ihr schlimme Erinnerung­en an den Zweiten Weltkrieg.

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