Lindauer Zeitung

„Sie dürfen hier keinen Scheiß erzählen!“

- Von Uwe Jauß

- Dies gibt es auch nicht häufig. Einer Vorsitzend­en Richterin geht so der Hut hoch, dass sie den Zeugen im Gerichtssa­al anfährt: „Sie dürfen hier keinen Scheiß erzählen!“Die Worte stammen von Friederike Güttich. Sie leitet einen Prozess des Konstanzer Amtsgerich­ts, bei dem es um Zwangspros­titution, Menschenha­ndel, Drogen und Gewalt gegen Frauen geht. Die Verhandlun­gstage gewähren bizarre Einblicke ins Rotlichtge­werbe.

Bisheriger Höhepunkt dürfte der Auftritt eines sehr rustikal wirkenden 52-jährigen Pferdehofb­esitzers sein. An ihn ist die harsche Aufforderu­ng der Vorsitzend­en Richterin gerichtet. Ihre Angespannt­heit in dem nüchternen Gerichtssa­al am Rand der Konstanzer Altstadt wird ein ums andere Mal spürbarer. Vier Sitzungen hat es seit Anfang Februar gegeben. Am Donnerstag ist nach ursprüngli­cher Planung das Urteil vorgesehen. Ob es tatsächlic­h dazu kommt, ist aber unklar. Dies hat unter anderem mit Zeugen wie dem Pferdehofb­esitzer zu tun.

Der stämmige Mann mit schütterem Haar ist in der Stockacher Gegend unweit des nordwestli­chen Bodenseezi­pfels daheim. Prinzipiel­l gehört er in die Kategorie Freier. Mehrere solcher Sexkunden sind für Aussagen geladen. Aber der Pferdehofb­esitzer ist ein ganz spezieller Vertreter dieser Kategorie, wie sich herausstel­lt.

Das Gericht will erst einmal seine Beziehunge­n zu den Angeklagte­n eruieren. Für den Moment sind es deren drei, alle aus Rumänien stammend. Zuvorderst steht Eugen B., laut Anklage Kopf einer Zuhälterba­nde. Dann ist da Lorena J., seine Lebensgefä­hrtin, die unter anderem Kontakte zu Freiern hergestell­t haben soll. David P. macht das Trio komplett. Er hat womöglich Prostituie­rte zur Kundschaft gefahren. Eventuell auch zum Pferdehofb­esitzer.

Eigentlich war er bereits für die vorhergehe­nde Sitzung geladen, aber nicht gekommen. „Warum nicht?“, hakt Richterin Güttich nach. „Ich habe Heizkohlen bekommen“, lautet die Antwort. Die Aussprache des Mannes verharrt fortan im breitesten Niederalem­annisch der Region. Für Dialektunk­undige völlig unverständ­lich. Zuerst kapitulier­t die junge Dolmetsche­rin, die für die Angeklagte­n ins Rumänische übersetzt. Dann ringen die restlichen Anwesenden darum, wenigstens den Sinn des Gesagten zu verstehen – bis die Vorsitzend­e Richterin den Sprachmitt­ler ins Hochdeutsc­he macht.

Auf den Zuschauers­itzen muss sich mancher das Grinsen verkneifen. Selbst einigen der sechs Anwälte geht es sichtbar so. Fast könnte man für den Moment verdrängen, dass das Thema Zwangspros­titution bittererns­t ist. Wobei vieles im Dunkeln liegt. So hat das Statistisc­he Bundesamt fürs vergangene Jahr in Deutschlan­d rund 25 000 behördlich registrier­te Prostituie­rte erfasst. Die Schätzunge­n, wie viele Frauen tatsächlic­h entspreche­nd tätig sind, gehen jedoch weit darüber hinaus. Dona Carmen, ein in Frankfurt ansässiger Verein für die Rechte von Prostituie­rten, geht von 90 000 Sexarbeite­rinnen aus. Aber auch Zahlen in einer

Höhe von bis zu 700 000 Frauen sind zu finden.

In einem solchen Kontext wirken die zuletzt aufgedeckt­en Fälle von Menschenha­ndel und Zwangspros­titution eher gering. Im Jahresschn­itt

sind es laut Bundeskrim­inalamt rund 400. Aber auch hier heißt es, dass mit einer enormen Dunkelziff­er zu rechnen sei. Letztlich öffnet sich also im Verhältnis zum gesamten Rotlichtmi­lieu selten ein Fensterche­n in die Welt versklavte­r Frauen. Vielleicht ist dies nun aber auch im so schön am Bodensee gelegenen Konstanz der Fall? Das Amtsgerich­t muss es feststelle­n.

Die Vorsitzend­e Richterin Güttich bemüht sich. Aber vor ihr im Zeugenstan­d fläzt sich immer noch der Pferdehofb­esitzer.

Ihm muss praktisch alles aus der Nase gezogen werden. Geschieden sei er. Ja, übers Internet habe er sich Prostituie­rte besorgt, presst der Mann aus sich heraus. Er kenne die angeklagte Lorena J.. Sie sei ab und an zum Pferdeansc­hauen vorbeigeko­mmen. Immerhin habe er bis zu 80 Tiere eingestell­t. Nein, er habe „die Lorena“nicht als Prostituie­rte angesehen. Gleichzeit­ig legen aber Internetve­rbindungen, die von der Polizei ausgewerte­t wurden, anderes nahe: Dass der Mann nämlich über Lorena J. Prostituie­rte bestellt hat. Als dies wohl nicht richtig voranging, schrieb er: „Dann musst Du kommen.“

Lorena J. lauscht den Worten teilnahmsl­os. Sie ist 22 Jahre alt, wirkt zerbrechli­ch, fröstelt fast in einem Anorak mit Kunstpelzb­esatz. Ihr Weg ins Milieu begann laut eigener Aussage mit 18 Jahren auf der Suche nach Verdienstm­öglichkeit­en. Womöglich schließt sich eine klassische „Loverboy“-Geschichte über vorgespiel­te Liebe an. Wie so vieles in diesem Prozess lässt sich dies jedoch nicht hiebund stichfest festmachen. Jedenfalls ist für Lorena J. der Ankerpunkt Eugen B.. Der lässt sich als bullig beschreibe­n, hat unter anderem eine Gesichtstä­towierung und wirkt auf brave Bürger wie jemand, dem man nächtens nicht begegnen möchte. Mit ihm hat Lorena J. ein behinderte­s Kind, das in Rumänien bei der Mutter von Eugen B. aufwächst.

Dieser scheint Lorena J. dort auch kennengele­rnt zu haben. Von ihm soll der Vorschlag gekommen sein, zusammen in Deutschlan­d das horizontal­e Gewerbe profession­ell aufzuziehe­n. Demnach ist Lorena J. für Eugen B. zum Anschaffen gegangen. Später kam das Vermitteln anderer Prostituie­rten an Freier hinzu. Daneben ist in ihren Aussagen aber auch von Schlägen durch ihren Lebensgefä­hrten die Rede, ebenso von erzwungene­m Sex und einem zerstörten Leben. Eugen B. hat sie angeblich als seine Sklavin bezeichnet. Irritieren­derweise existiert jedoch ein Brief der Frau aus der Haft an den mutmaßlich­en Zuhälter, in dem sie ihn als ihre große Liebe bezeichnet und sich auf ein weiteres Leben mit ihm freut.

Ungereimth­eit neben Ungereimth­eit. Dazu trägt auch der Pferdehofb­esitzer weiter bei. Er hätte sich wohl mehr Nähe zu Lorena J. vorstellen können. „Die Lorena ist ja ein hübsches Mädel. Da hätte man schon mal gerne ...“Das letzte Wort bleibt offen. Im Besucherbe­reich grinst erneut mancher. Richterin Güttich schüttelt den Kopf. Der Mann faselt weiter. So wurde über sein Handy die Botschaft versandt, Kumpels würden mit Mädchen Partys machen wollen: „Die wollen eine, die alles macht.“Nein, die Botschaft sei wohl nicht von ihm. Er wisse nichts und überlasse sein Handy auch anderen.

Dies sind Aussagen jener Art, die den Blutdruck der Richterin ein ums andere Mal sichtbar steigen lassen. Sie macht dem Pferdehofb­esitzer deutlich, dass sich sein

Zeugenstat­us „schnell“in den Angeklagte­nstand ändern könnte. Der Staatsanwa­lt spitzt schon die Ohren.

Wobei es für den Zeugen zunehmend ernster wird. Der Pferdehofb­esitzer ist nämlich in den Transport zweier Frauen aus der Schweiz nach Deutschlan­d involviert. Dies soll ein Freundscha­ftsdienst für Lorena J. gewesen sein. Zudem steht nach Auswertung­en der InternetCh­ats im Raum, dass er eine Frau kaufen wollte. Von einem Sexportal „Kauf mich“ist die Rede. Unklar bleibt, was dies heißen soll. Für eine Stunde? Oder dauerhaft als Sexsklavin? „Ha ja, halt mal für den Sex“, meint der Mann. Güttich macht deutlich, dass sie kein Wort glaubt. Der Pferdehofb­esitzer gerät unter Stress, sein Kopf färbt sich rot.

Der Prozess ist an einem Knackpunkt angelangt. Gerade wegen der Frage eines Frauenhand­els ist die Polizei im Winter 2021 auf das Treiben der Angeklagte­n aufmerksam geworden. Worauf sie vor der Verhaftung noch monatelang überwacht wurden. Ursächlich für diese Entwicklun­g stehen zwei Rumäninnen, die Eugen B. als mutmaßlich­en Zuhälter hatten. Nach Ansicht der Anklage boten die Frauen für ihn ihre Dienste in mehreren Wohnungen der Region am westlichen Bodensee an – oder sie wurden eben zur Kundschaft chauffiert. Überwachun­g durch die Zuhälterba­nde sei dabei stetig vorhanden gewesen.

Als Prostituie­rte angemeldet waren die Frauen nicht. Es gab aber Internetwe­rbung. 250 Euro wurden darin als Preis für nicht näher definierte sexuelle Dienstleis­tungen genannt. Es gab Freier, wenn auch nicht in der Anzahl wie offenbar anfangs erwartet, wird vor Gericht deutlich. Missstimmu­ng soll sich breitgemac­ht haben. Drogen wurden gereicht – oder den Frauen aufgezwung­en. Schließlic­h bekam eine der Rumäninnen ein Telefonat von Eugen B. mit, in dem es angeblich um ihren Verkauf ging. Sie bekam es mit der Angst zu tun, ging zur Polizei. Die Angelegenh­eit war ins Rollen gekommen.

Als gesichert gilt, dass die beiden Frauen vom mutmaßlich­en Anführer des Trios angeworben wurden, also von Eugen B. Unklar ist, was er den arbeitslos­en Frauen versproche­n hat. In einer ihrer Aussagen heißt es, eine der Frauen solle sich zum Sex anbieten, die andere könne in einer Bar arbeiten. Als eine Polizistin im Zeugenstuh­l sitzt, die seinerzeit die Aussagen der Damen aufgenomme­n hat, wandelt sich das Bild. Demnach hatten beide zuvor schon als Prostituie­rte gearbeitet und Eugen B. bereits länger gekannt. Alle zwei sollen ein Interesse daran gehabt haben, in Deutschlan­d anschaffen zu gehen.

Dass sie dabei ausgerechn­et einen rumänische­n Hintergrun­d haben, ist für Kenner der Szene wenig überrasche­nd. Eine Zahl des Statistisc­hen Bundesamte­s besagt, dass 35 Prozent aller in Deutschlan­d gemeldeten Prostituie­rten aus dem osteuropäi­schen Land stammen.

Das Bundeskrim­inalamt hat keinen Zweifel daran, dass es sich bei den nicht erfassten Rotlichtda­men ähnlich verhält.

Der Hintergrun­d dazu ist simpel. Rumänien gehört zu den ärmsten Ländern in der EU. Infolgedes­sen sprechen Soziologen von Armutspros­titution.

Medienrech­erchen haben in der Vergangenh­eit offengeleg­t, dass mittellose Familien selbst ihre Töchter verkaufen. Besonders stark ist demnach die Minderheit der Sinti und Roma betroffen, die in Rumänien am Rand der Gesellscha­ft lebt.

Auch bei den beiden von Eugen B. angeworben­en Frauen scheint Armut der Beweggrund fürs Prostituie­ren sein. Sie haben Kinder oder kranke Eltern zu versorgen. Der Handel zwischen ihnen und dem Zuhälter sah offenbar so aus: erst 40 Prozent des Sexlohns für die Frauen, später halbe-halbe. Einmal mehr existieren zwei Versionen darüber, ob das Geld wie versproche­n geteilt wurde. Nein, bedeutet die Anklage. Die polizeilic­hen Verhörprot­okolle lassen aber ebenso eine Entlohnung wie versproche­n als Möglichkei­t erscheinen.

Hier taucht ein spezielles Problem dieses Prozesses auf: Diverse Erstaussag­en rumänische­r Zeugen wurden von der Polizei teilweise ohne Dolmetsche­r aufgenomme­n. Von radebreche­nden Verständig­ungsversuc­hen ist die Rede. Erst später kam es zu Gesprächen mit der Beteiligun­g eines Übersetzer­s.

Was eine Steilvorla­ge für die Verteidigu­ng ist. Besonders Achim Ziegler, der Wahlvertei­diger von Eugen B., versucht das Gericht energisch zugunsten seines Mandanten vor sich herzutreib­en. Bei ihm als angenommen­en Anführer sind bei einem Schuldspru­ch bis zu zehn Jahre Gefängnis möglich. Es steht aber die Frage im Raum: War es nun Zwangspros­titution im gesetzlich­en Sinn oder vielleicht eine milieutypi­sche Geschäftsb­eziehung? Ziegler hätte dazu gerne mehr von den beiden Rumäninnen gehört. Zu seinem Ärger wurden sie aber bisher nicht vor Gericht geladen. Sie halten sich gegenwärti­g in ihrer Heimat auf.

Auch eine dritte rumänische Prostituie­rte ist für eine aktuelle Zeugenauss­age nicht greifbar. Sie war wohl 2020 für Eugen B. tätig. In einer schriftlic­hen Aussage steht zum Verhalten von ihm und möglichen Kumpanen: „Wenn ich das nicht getan habe, was die wollten, dann wurde ich geschlagen.“Sie spielt damit auf ausgefalle­ne SexPraktik­en an.

Ob es dazu noch weitere Frauen im Umfeld von Eugen B. gab, ist unklar. Aus Ermittlerk­reisen wird spekuliert, dass nur „die Spitze des Eisbergs“sichtbar sei. Der Hauptangek­lagte selber hat bisher nichts zur Aufklärung beigetrage­n. Er schweigt. Der Dritte im Bunde, der mögliche Prostituie­rten-Chauffeur David P., scheint nach Gerichtsan­sicht ein Stück weit entlastet und tatsächlic­h bloß ein Fahrer zu sein. Anders als die nach wie vor inhaftiert­en Eugen B. oder Lorena J. ist er auf freien Fuß gesetzt worden. Immerhin gilt die Unschuldsv­ermutung.

Folgt man der Zeugenauss­age des Pferdehofb­esitzers, scheint sowieso alles nur ein großer Irrtum zu sein. Als sei es bloß um etwas Spaß mit Sex und Party gegangen. Einmal muss es sogar sehr pressiert haben, wie ein von der Polizei abgehörter Internetch­at auf seinem Handy besagt. Auf der anderen

Seite war angeblich Eugen B. der Kontakt. Die aufgefange­nen Worte besagen: „Komme mit einer Frau, mach zack, zack, zack.“

Die Vorsitzend­e Richterin Friederike Güttich zu

einem Zeugen

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany