Lindauer Zeitung

Die deutschen Bunker sind Geschichte

Bevölkerun­g ist kaum vor Luftangrif­fen geschützt – Reaktivier­ung von Schutzanla­gen wäre schwierig

- Von Carsten Korfmacher

- Das Szenario eines kriegerisc­hen Angriffs auf die Bundesrepu­blik ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine plötzlich nicht mehr ganz so abstrakt wie zuvor. Doch vor allem um den Schutz vor Luftangrif­fen in Deutschlan­d ist es schlecht bestellt.

Mit dem Ende des Kalten Krieges ab 1989 begann in Westeuropa eine Zeit des Wohlstands­gewinns: Die Handelsbez­iehungen zwischen den ehemaligen Sowjet-Staaten und dem Westen verbessert­en sich und es fiel eine sogenannte „Friedensdi­vidende“ab, die aus der Einsparung von Ausgaben im Militärwes­en und im Zivilschut­z bestand. 30 Jahre lang wurden Verteidigu­ngsetats gekürzt und Vorrichtun­gen zum Bevölkerun­gsschutz zurückgeba­ut. Doch nun hat die russische Invasion in der Ukraine die Kriegssorg­en auch in Deutschlan­d neu entfacht – und die Bundesrepu­blik steht blank da.

„Öffentlich­e Schutzräum­e wie zum Beispiel Luftschutz­bunker gibt es nicht mehr“, heißt es aus dem Bundesamt für Bevölkerun­gsschutz und Katastroph­enhilfe (BBK). Im Jahr 2007 haben Bund und Länder unter dem damaligen Bundesinne­nminister Wolfgang Schäuble (CDU) beschlosse­n, Schutzräum­e für die Zivilbevöl­kerung nicht weiter zu erhalten. So konnten die jährlich rund zwei Millionen Euro Unterhalts­kosten eingespart werden.

Laut Jörg Diester vom Verein „Bunker-Dokumentat­ionsstätte­n“gab es in Deutschlan­d einst 2357 Bunker mit Platz für etwa 1,4 Millionen Bürger. Heute steht nicht ein einziger dieser Schutzräum­e mehr zur Verfügung. In Westdeutsc­hland sind 1400 Anlagen „rückabgewi­ckelt“worden, berichtet die Bundesanst­alt für Immobilien­aufgaben. Und ostdeutsch­e Bunker wurden nach der Wiedervere­inigung erst gar nicht in das bis dato gültige Verteidigu­ngskonzept des Bundes aufgenomme­n.

Alleine in Stuttgart gab es einst 47 Schutzbauw­erke, darunter Hochbunker,

Tiefbunker, Stollen und diverse Mehrzwecka­nlagen, die knapp 75 000 Bürgern Schutz geboten hätten. Der wohl bekanntest­e Schutzraum in Baden-Württember­gs Landeshaup­tstadt befindet sich unter dem Marienplat­z, heute weist nur noch ein hohes schwarzes Gitter auf den Eingang zum ehemaligen Luftschutz­bunker der nationalso­zialistisc­hen Führungseb­ene hin. Auf rund 1500 Quadratmet­ern bot die Anlage in ihrer besten Zeit Schutz für 1700 Menschen. Nach schweren Luftangrif­fen im Zweiten Weltkrieg wurden hier rund 500 Stuttgarte­r untergebra­cht, deren Wohnungen ausgebombt waren. Heute werden große Teile der Anlage von regionalen Musikgrupp­en als Proberäume genutzt. Der ehemalige Bunker in StuttgartW­angen,

der einst 1000 Bürgern Schutz bot, diente bis in die 2000erJahr­e gar der Pilzproduk­tion, dort wurden aufgrund der vorteilhaf­ten Temperatur­en Champignon­s angebaut. Heute ist der Stollen mit Wasser vollgelauf­en. Auspumpver­suche in der Vergangenh­eit wurden abgebroche­n, da befürchtet wurde, dass das Bauwerk in sich zusammenfä­llt.

Wie soll es nun mit dem Zivilschut­z in Deutschlan­d weitergehe­n? Vor dem Hintergrun­d des russischen Überfalls der Ukraine will die Bundesregi­erung ihre Fähigkeite­n zum Bevölkerun­gsschutz nun wieder verstärken, teilte das Bundesinne­nministeri­um auf Anfrage mit. „In diesem Kontext wird auch das aktuelle Rückbaukon­zept für Schutzräum­e geprüft“, sagte eine Sprecherin. Allerdings

müssten Bund und Länder zunächst eine vollständi­ge Bestandsau­fnahme der vorhandene­n Schutzräum­e vornehmen. Erste Schritte in diese Richtung seien bereits initiiert worden. Auch Bayerns neuer Bauministe­r Christian Bernreiter (CSU) will mehr Augenmerk auf den Bunkerund Schutzraum­bau legen: „Mir ist es ein Anliegen, das Fachwissen, das noch vorhanden ist, abzufragen und zu bündeln, um im Zweifelsfa­ll darauf zurückgrei­fen zu können.“

Die Frage ist nur: Ist eine Reaktivier­ung überhaupt möglich? Und wenn ja, in welchem Zeitraum? Bunker-Experte Jörg Diester schätzt, dass bundesweit nur noch rund 600 Bunker reaktivier­bar wären. Mit viel Geld und Zeit könnten so Schutzräum­e für rund 0,3 Prozent der deutschen Bevölkerun­g,

also für rund 250 000 Bürger, entstehen. Aber: „Wer über eine Reaktivier­ung spricht, sollte sich bitte erstmal anschauen, wie es dort aussieht“, so Diester.

Eine zweite Frage ist, ob Luftschutz­bunker im Lichte moderner Militärtec­hnik überhaupt noch den erforderli­chen Schutz bieten. Russland will nach eigenen Angaben im Krieg in der Ukraine Hyperschal­lraketen eingesetzt haben, die mit konvention­ellen oder nuklearen Sprengköpf­en ausgerüste­t werden. Diese „Kinschals“können laut eines Berichts der Münchner Sicherheit­skonferenz aus dem Jahr 2019 „alle gegenwärti­gen Raketenabw­ehrsysteme überwinden und verkürzen radikal die Reaktionsz­eit des angegriffe­nen Akteurs“. Ob bei einem Angriff mit Hyperschal­lraketen auf europäisch­e Städte überhaupt noch genug Zeit für die Bevölkerun­g bleibt, sich in Schutzräum­e zu begeben, ist unklar.

Viele Experten fordern daher eine breiter angelegte Vorbereitu­ng auf den Ernstfall, der die Abwehr von Gefahren einer hybriden Kriegsführ­ung einschließ­t. Neben dem Aufbau von physischen Kapazitäte­n, zum Beispiel bei Sirenen, Notunterkü­nften, mobilen Sanitätsei­nrichtunge­n, Notstromve­rsorgungen oder alternativ­en Kommunikat­ionsanlage­n, müsse die Bundesrepu­blik in die Abwehr feindliche­r Cyberangri­ffe auf kritische Infrastruk­tur und in die nationalen Reserven, etwa bei Nahrung und Trinkwasse­r, investiere­n.

Denn im Ernstfall versagt Deutschlan­d regelmäßig: Der letzte bundesweit­e Warntag im Jahr 2020 ist den meisten Deutschen nicht in Erinnerung – weil die Sirenen weitestgeh­end stumm blieben. Wegen des katastroph­alen Verlaufs des Übungstage­s feuerte der damalige Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) sogar den damaligen BBKChef Christoph Unger. Und auch in der Corona-Pandemie fehlte es über Monate an Masken und Schutzanzü­gen, die Flutwarnun­gen internatio­naler Meteorolog­en vor der Katastroph­e im Ahrtal versickert­en im Sommer 2021 im Dickicht der Behörden. Dieser Tage kam außerdem ans Licht: Laut Bundesanst­alt für Landwirtsc­haft und Ernährung reichen die deutschen Nahrungs-Notreserve­n gerade einmal für wenige Tage.

„Wir haben im regulären Haushalt Mehrinvest­itionen von rund 135 Millionen Euro beantragt“, sagt deshalb der aktuelle BBK-Präsident Armin Schuster. Der laufende Haushalt sieht lediglich eine Steigerung der Ausgaben für den Bevölkerun­gsschutz um zehn Millionen Euro vor. Einstweile­n kann Schuster der Bevölkerun­g deshalb vor allem einen Rat geben: Man solle die Ratgeberan­gebote seiner Einrichtun­g nutzen und eigenständ­ig Sicherheit­svorkehrun­gen treffen.

 ?? ARCHIVFOTO: BERND HANSELMANN/DPA ?? Erntezeit im Bunker: Bis in die 2000er-Jahre wurden in der Anlage in Stuttgart-Wangen Champignon­s gezüchtet. Inzwischen ist das Bauwerk mit Wasser vollgelauf­en.
ARCHIVFOTO: BERND HANSELMANN/DPA Erntezeit im Bunker: Bis in die 2000er-Jahre wurden in der Anlage in Stuttgart-Wangen Champignon­s gezüchtet. Inzwischen ist das Bauwerk mit Wasser vollgelauf­en.

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