Der streitbare Chronist vom See
Schriftsteller Martin Walser wird 95 Jahre alt – Seine Schaffenskraft ist seit Jahrzehnten ungebrochen
Martin Walser lesen heißt, in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einzutauchen. Denn er, der am Donnerstag 95 Jahre alt wird, hat dieses Land von Beginn an mit seinem Werk begleitet und geprägt wie sonst nur Heinrich Böll, Siegfried Lenz und Günter Grass: die Nachkriegsjahre, den Aufbruch, die 1968er, in denen er als Kommunist beschimpft wurde, um in den 1980er-Jahren – als EwigGestriger tituliert – die deutsche Teilung zu beklagen. Dann 1998 seine Rede in der Paulskirche. Er sprach dort von einer Instrumentalisierung des Holocaust in der deutschen Geschichte. Die auf ihn niederprasselnden Vorwürfe des Antisemitismus trafen ihn hart und lösten eine hitzige Debatte über den Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus aus.
Was dieser lange Schaffensweg in jeder Phase zeigt? Martin Walser schweigt nicht zu den Fragen der Zeit, hat es nie getan. Er, dessen Schaffen 1949, dem Gründungsjahr der Bundesrepublik, mit ersten Veröffentlichungen literarischer Texte in der „Frankfurter Rundschau“begann, schreckt vor keiner Kontroverse zurück. Der geistige Austausch ist
DVon Reinhold Mann
ie Bücher von Martin Walser, die in den letzten zehn Jahren erschienen sind, umkreisen in zunehmend weiter werdenden Bahnen den literarischen Kernbestand des Autors. Sie sind dialogisch angelegt, haben Ko-Autoren, protokollieren Gespräche, binden Grafik ein. Das neue Buch folgt diesem Muster. Die Texte sind von Martin Walser. Alexander Fest, nun bereits ehemaliger Geschäftsführer des Rowohlt-Verlags, hat die Auswahl getroffen und die Bilder von Cornelia Schleime dazu arrangiert.
Das sind übermalte Postkarten mit Ansichten vom Bodensee. Die Technik der Übermalung von Fotos, die hier nun eher heimatkundlich eingesetzt sind, markierte im Leben Cornelia Schleimes einst einen Neuanfang, der ganz und gar nicht folkloristisch war. Ihre Auseinandersetzung mit dem Leben in der DDR, wo sie 1981 mit einem Ausstellungsverbot belegt wurde, hatte sie auf Schmalfilme gebannt. 1984 ist sie in die Bundesrepublik ausgereist und machte jene Erfahrung, die viele Künstler teilten, die den Osten freiwillig oder unfreiwillig verlassen hatten. Mit der Ausreise ist ihnen ihr Sujet abhanden gekommen. Im Falle Cornelia Schleimes waren es auch die bisherigen Arbeiten. sein Lebenselixier. Corona hat freilich auch einen Martin Walser zum unfreiwilligen Schweigen verdammt. Ein Interview zu seinem Geburtstag musste er ablehnen, den persönlichen Kontakt scheut er in diesen Zeiten – verständlicherweise. Doch das Schreiben lässt er sich auch von der Pandemie nicht nehmen. „Nur im Schreiben hat das Leben einen Sinn“, sagte er in einem Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“2014. Wie zum Beweis dieser These legt er zu seinem 95. Geburtstag ein neues Buch vor: „Das Traumbuch – Postkarten aus dem Schlaf“(Besprechung siehe unten). Kaum ein Literaturpreis, den er in Deutschland nicht bekommen hätte für seine Dutzenden Romane und Geschichten. Nur der Nobelpreis, für den er immer wieder gehandelt wird, fehlt.
Martin Walsers Werdegang ist von Beginn an mit seiner Heimat am Bodensee verwoben. 1927 geboren in Wasserburg als Sohn eines Gastwirts und Kohlehändlers, führte ihn das Studium nach Regensburg und Tübingen. Als er 1951 über Kafka promovierte, arbeitete er bereits als Reporter und Hörspielautor für den Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. 1953 wurde er Mitglied der „Gruppe 47“. Seine Frau Käthe Neuner-Jehle
Alexander Fest macht aus Martin Walsers Traumtexten eine Art Autorenverzeichnis. Es scheint ihm darum zu gehen, möglichst viele bekannte Namen präsentieren zu können. Also: Reich-Ranicki muss wieder heiratete er 1950. Mit ihr zog er später wieder zurück an den See, zuerst nach Friedrichshafen, dann nach Nußdorf bei Überlingen, wo er bis heute lebt. Seine vier Töchter sind alle künstlerisch tätig: die Schauspielerin Franziska Walser, verheiratet mit Edgar Selge, Johanna und Alissa, die als Schriftstellerinnen arbeiten, und die Dramatikerin Theresia Walser. Dass er der Vater des Publizisten Jakob Augstein (54) ist, erfuhr die Öffentlichkeit erst im Jahr 2009.
Walser lebt aber nicht nur am Bodensee, er hat auch das literarische Leben dort bis hinein nach Oberschwaben maßgeblich beeinflusst. Talente aus der Region hat er gefördert, er prägte das Bild der „drei Marien“der oberschwäbischen Literatur: Maria Müller-Gögler, Maria Menz und Maria Beig. Bei den ersten Sitzungen des Literarischen Forums Oberschwaben war er dabei, hat sich für Nachwuchsautoren wie Arnold Stadler stark gemacht.
Überhaupt sein Fleiß, seine unglaubliche Schaffenskraft. Vor Kurzem hat er dem Literaturarchiv in Marbach seinen Vorlass übergeben: 75 000 handgeschriebene Seiten, seine Tagebücher, seine Briefwechsel mit Alfred Andersch und Rudolf Augstein, Ingeborg Bachmann, Heinrich sein. Sigmund Freud ist naheliegend, obwohl Walser der Psychoanalyse nicht zustimmt: „Schon das Bedürfnis, Träume zu deuten, kommt mir absurd vor.“Der Freud im Traum sieht dann auch nicht aus
Böll, Jürgen Habermas, Uwe Johnson und dem Verleger Siegfried Unseld. Jochen Hieber, ehemaliger Kulturredakteur der „FAZ“, hat in seiner jüngst erschienen Walser-Biografie konstatiert: „Seine Laufbahn kennt zwei große Skandale und viele Kontroversen. Was ihn nie anficht, ist eine nennenswerte Schreibkrise.“
Die handfesten Skandale, die Rede in der Paulskirche 1998 und sein Buch „Tod eines Kritikers“im Jahr 2002, fußen beide auf dem Vorwurf des Antisemitismus. Seine Rede zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998 bezeichnete Ignaz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden, als „geistige Brandstiftung“. Walsers Aussage, Auschwitz eigne sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, die Schande dürfe nicht instrumentalisiert werden, brachte ihm heftige Kritik ein.
Die Freundschaft mit der jüdischen Germanistin Ruth Klüger, die seit der Studienzeit bestand, wurde von ihr in einem öffentlichen Brief beendet. Das war im Jahr 2002, als mit „Tod eines Kritikers“eine kaum verschleierte Abrechnung mit seinem alten Feind, dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki erschien. Die Fehde nahm schon in den ersten
„wie der wirkliche Freud“. Dafür kommt Thomas Mann typähnlich als „alter Naturbursche“daher. Frühe Weggefährten tauchen auf, der Tübinger Doktorvater Professor Beißner, der Verleger Siegfried Unseld, der Kritiker Joachim Kaiser aus den Tagen der Gruppe 47. Er erscheint in Turnhosen.
Mit Jürgen Habermas schießt Walser pfeilgerade aus einem explodierenden Haus hinaus in die Nacht über dem See, um dann in philosophischer Umarmung in den langsamen Sinkflug überzugehen, geleitet von der Hoffnung, von Obstbäumen sanft aufgefangen zu werden. Vom Traumgespräch mit Hans Magnus Enzensberger erfahren wir leider nur das Thema: der „Selbstkostenpreis Gottes“. Darüber hätte man gerne mehr gelesen.
Die Textauswahl dieser FestSchrift zum 95. Geburtstag Martin Walsers folgt einem alten literarischen Prinzip: der Einheit des Ortes. „Wasserburg ist mein Traumschauplatz“, bekennt der Jubilar. Im Traum steigt er sogar in Berlin im Wasserburger Bahnhof aus.
Martin Walser, Cornelia Schleime: Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf. Rowohlt, 144
Jahren beider Berufsleben ihren Anfang. Sie gipfelte im August 1998 in Reich-Ranickis Sendung „Das Literarische
Quartett“, in der Walsers eben erschienene Kindheits- und Jugenderinnerung „Ein springender Brunnen“von einem aufgewühlten Reich-Ranicki verrissen wurde. Walser habe den Nationalsozialismus aus seinem Leben ausgeblendet. Zudem wisse er überhaupt nicht, was Erzählen sei, so der Literaturpapst, wie der jüdische Reich-Ranicki unpassenderweise genannt wurde.
Jahre später räumte Martin Walser in einem Interview mit dem „Hamburger Abendblatt“ein, er habe auf das Vermittlungsangebot Ignaz Bubis im Jahr 1998 „völlig borniert“reagiert. Die Vorwürfe des Antisemitismus waren die wahrscheinlich schmerzhaftesten in seinem Schriftstellerleben. Am Weiterschreiben haben sie ihn nicht gehindert. Fast jedes Jahr erscheint ein Buch, zuletzt vor allem mit Alter, Tod und der Liebe als Themen, miteinander verwoben in einer einzigartig verdichteten Form, mit keinem Wort zu viel. Wenn Alterswerke so schwerelos daherkommen, darf man auf das nächste gespannt sein.
Jochen Hieber: Martin Walser. Der Romantiker vom Bodensee. wbg Theiss, 304 Seiten, 29 Euro.
Seiten, 24 Euro.