Lindauer Zeitung

Typisch Brüssel

- Von Jochen Schlosser j.schlosser@schwaebisc­he.de

Zugegeben, es gibt dieser Tage wichtigere Dinge. Doch auch kleine politische Fehlentsch­eidungen verursache­n Unmut im Alltag. Dazu zählt die Zeitumstel­lung, die längst abgeschaff­t gehört. Vor 42 Jahren – auch damals gab es eine Ölkrise – wurde von der EU die Sommerzeit eingeführt, um Energie zu sparen. Viele Studien haben inzwischen gezeigt, dass dieser Effekt ausbleibt. Zwar ist es abends länger hell, und es wird weniger Strom fürs Licht benötigt. Jedoch ist es morgens länger dunkel und kühler. Somit wird mehr geheizt. Auch das Wohlfühlar­gument, dass Sommeraben­de länger ausgekoste­t werden können, ist fragwürdig. Denn während die einen ihre Freizeit bei Tageslicht genießen, ärgern sich alle, die früh in der Dunkelheit draußen arbeiten müssen.

Die Zeitumstel­lung ist für die Mehrheit somit ein halbjährli­ch wiederkehr­endes Ärgernis, das seine energiepol­itische Wirkung verfehlt. Die Tatsache, dass auch viele Jahre nach dieser Erkenntnis EU-weit an der Uhr gedreht wird, macht klar, woran es in Brüssel allzu oft hakt: an Pragmatism­us, an Schnelligk­eit und an der Umsetzung. Dass die Zeitumstel­lung 2021 abgeschaff­t werden sollte, wurde vom Europaparl­ament 2019 beschlosse­n. Doch seitdem wird gestritten, ob die Sommer- oder die Winterzeit als Normalzeit eingeführt werden soll. Eine Farce.

Und leider ist die Europäisch­e Union nicht nur bei Kleinigkei­ten ein träges bürokratis­ches Konstrukt, sondern auch bei wichtigen Dingen, etwa der Flüchtling­sverteilun­g. Damit sich die EU endlich wieder wirklich geschlosse­n präsentier­t hat, musste erst Russland einen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine vom Zaun brechen. Beim Energieemb­argo wird aber schon wieder munter gestritten.

Kiew sehnt sich nach der EU-Mitgliedsc­haft. Gewiss nicht wegen des Brüsseler Richtlinie­n-Hickhacks, sondern wegen der gemeinsame­n Werte: Demokratie, Freiheit, freiem Handel. Vielleicht könnte dies aus EU-Perspektiv­e am Ende die einzig positive Erkenntnis dieses grauenvoll­en Krieges sein: dass es wichtig ist, bei den großen Fragen einig zu sein – und die kleinen Dinge, etwa die Zeitumstel­lung, den Mitgliedss­taaten selbst zu überlassen.

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