Debatte um ein Ende der Pandemie
Südwest-Gesundheitsminister Lucha handelt sich Kritik auch aus dem eigenen Lager ein
- Ein Brief sorgt für mächtig Wirbel und hat Südwest-Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) sogar Rücktrittsforderungen eingebracht. Der hatte in einem Schreiben an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) einen Strategiewechsel im Corona-Management gefordert – hin zu weniger Tests und Quarantänevorgaben. Dabei hatten Lucha und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) den Bund zuvor scharf kritisiert – und zwar gerade für dessen Lockerungen der Corona-Regeln.
Der Brief löste auch in den eigenen Reihen großen Ärger aus. Die grün-schwarzen Regierungsfraktionen waren ebenso ahnungslos wie Regierungschef Winfried Kretschmann. „Es war ein nicht abgestimmter und missverständlicher Vorstoß vom Gesundheitsminister zur falschen Zeit“, sagte Kretschmann am Freitag. In dem Brief, der der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt, fordert Lucha drei grundlegende Änderungen: Außer für vulnerable Gruppen wie etwa Senioren sollten anlasslose Corona-Tests wegfallen, Gesundheitsämter sollten nicht mehr alle Daten sammeln und nachverfolgen müssen, für Infizierte und ihre Kontaktpersonen sollten alle Quarantänepflichten wegfallen.
„Das Verhalten sollte vielmehr in die Eigenverantwortung gegeben werden“, schreibt Lucha. Er sehe „eine dringende Notwendigkeit, zeitnah einen Strategiewechsel von der pandemischen Phase in die endemische Phase zu vollziehen“.
Für die Wissenschaft kommt dieser Schritt zu früh. RKI-Chef Robert Wieler hat angesichts der Rekord-Infektionszahlen und wöchentlich 1000 Todesfällen in Zusammenhang mit Omikron am Freitag in Berlin betont: „Die Pandemie ist nicht vorbei, im Gegenteil.“Für einen Wechsel von der pandemischen in eine endemische Lage sei es definitiv zu früh, sagte auch Stiko-Chef Thomas Mertens am Freitag der „Schwäbischen Zeitung“. „Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir derzeit keinen Fortschritt mehr bei den Impfungen erreichen, was unklug ist. Denn es führt dazu, dass die Grundimmunität in der Bevölkerung nicht ausreichend erhöht wird. Wenn die Grundimmunität hoch genug wäre, würden wir von einer endemischen Lage sprechen können. Da sind wir aber noch nicht.“Mertens rechnet zwar über den Sommer mit einem Rückgang
der Infektionen und Erkrankungen. „Wie sehr das Infektionsgeschehen im Herbst und Winter wieder aufflammen wird, hängt entscheidend von der Grundimmunität ab. Zu der tragen auch Infektionen mit der Omikron-Variante bei. Man weiß aber nicht genau, wie gut eine Infektion mit Omikron vor schweren Erkrankungen durch andere Coronavirus-Infektionen schützt.“
Luchas Amtschef Uwe Lahl hatte dieses geplante Vorgehen bereits in einem Interview mit Regio TV Stuttgart angedeutet. Die Impfquote stagniere, und das werde sich wohl nicht mehr wesentlich ändern. So werde das Land gewisse Risiken in Kauf nehmen müssen. „Ich glaube, wir sind auch kurz davor, diesen Schritt politisch gehen zu wollen. Das ist keine einfache Entscheidung. Das ist letztlich der Übergang von der Pandemie zur Endemie, den wir dann vollziehen werden“, so Lahl.
Hintergrund für Luchas Brief ist ein Schreiben von 31 der 38 Gesundheitsämter im Land. Unterzeichnet haben es auch die Behörden in Biberach, Ravensburg, Tuttlingen und dem Bodenseekreis. Es liegt Luchas Brief an Lauterbach bei. Darin klagen die Gesundheitsämter über eine massive Überlastung durch Aufgaben, die zur Eindämmung der Pandemie nutzlos seien. Bürgertests seien teuer, qualitativ fragwürdig und führten zu einem extremen Kontrollaufwand bei den Behörden. Gleiches gelte für deren Aufgabe, Quarantäne und Isolation zu verhängen und zu kontrollieren. Die Ämter fordern von Lucha, auf diese Maßnahmen verzichten zu können, um Luft zu haben, sich etwa stärker um Ausbruchsgeschehen dort zu kümmern, wo Menschen ein besonders hohes Risiko haben – etwa in Altenheimen. Der Strategiewechsel solle zum „Ende der Saison der Atemwegsinfektionen“Ende April kommen, so Lucha. Isolation und Quarantäne könnte das Land zwar eigenständig regeln, will das aber laut früheren Aussagen des Sozialministeriums nur in Abstimmung mit dem Bund tun.
Die Nachverfolgung von Kontaktpersonen durch Gesundheitsämter machten epidemiologisch nur Sinn, wenn diese schnell reagierten, sagt Mertens. „Dazu sind die Ämter aktuell gar nicht mehr in der Lage.“Als falsch bezeichnet er es jedoch, Infektionsschutzmaßnahmen schlagartig abzubauen. „Wenn wir etwa über den Zeitraum von zwei Wochen sehen, dass die Infektionskurve kontinuierlich nach unten geht, wäre das für mich der Marker, um langsam die Einschränkungen zurückzunehmen. Aber nicht alles auf einmal, sondern sukzessive.“Auch dann müssten besonders gefährdete Menschen weiter geschützt werden.
Luchas Haus hatte noch am Donnerstagabend eine Klarstellung versandt: Man halte die Pandemie keineswegs für beendet. Gemeinsam mit Amtskollegen von vier weiteren Ländern – darunter Bayern – fordert er zudem vom Bund, die aktuelle Übergangsfrist des Infektionsschutzgesetzes um vier Wochen zu verlängern. Stand jetzt können die Länder nämlich nur noch bis zum 2. April in vielen Bereichen Corona-Schutzmaßnahmen verhängen – darunter eine Maskenpflicht etwa in Innenräumen wie Supermärkten.
Für die Regierungsfraktionen ist die Causa abgehakt. „Wir sind weiterhin im Team Vorsicht“, betont etwa Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz. „Minister Lucha hat eine Idee der Gesundheitsämter aufgegriffen und dann wieder vom Tisch genommen. Die Sache ist damit für uns erledigt.“Nicht so die Opposition. „Die Landesregierung muss klarstellen, welche Richtung sie in dieser Frage verfolgt“, so SPD-Fraktionschef Andreas Stoch. Sein FDP-Kollege Hans-Ulrich Rülke fordert: „Der Ministerpräsident sollte schleunigst seine Konsequenzen ziehen und Lucha entlassen.“
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