Versorgungsengpässe in Kliniken befürchtet
Umsetzung der Medizinprodukteverordnung setzt Südwest-Herstellern zu – Unternehmen fordern Aufschub bei Produktzertifizierungen
- Das Vorhaben der EU, Medizinprodukte sicherer zu machen, geht zulasten der Innovationsfähigkeit – gerade bei kleinen und mittelständischen Unternehmen – und gefährdet die flächendeckende Versorgung mit Medizinprodukten. Das machten Branchenvertreter aus Baden-Württemberg auf einer Veranstaltung im Haus der Wirtschaft in Stuttgart deutlich. Grund ist die 2017 in Kraft getretene und seit Mai 2021 geltende Medizinprodukteverordnung (MDR), die unter anderem deutlich aufwendigere Zertifizierungsprozesse verlangt. „Neue, innovative Produkte auf den Markt zu bringen ist teurer und dauert längert“, sagte Andreas Hilzenbecher vom Ulmer Medizintechniker Ulrich Medical.
Doch das ist noch nicht alles. Viele Unternehmen würden angesichts des höheren regulatorischen Aufwands auch ihr bestehendes Produktportfolio bereinigen. Denn die Medizinprodukteverordnung gilt sowohl für neue als auch für bereits am Markt eingeführte Produkte. Für letztere gilt eine Übergangsfrist bis Mai 2024. Bis dahin müssen laut Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) 20 000 Zertifikate für Medizinprodukte in die MDR überführt werden. „Einige langjährig etablierte Produkte werden wir wegen des hohen Aufwands aus dem Sortiment nehmen“, bestätigte Hilzenbecher von Ulrich Medical. Das Unternehmen produziert und vertreibt vor allem Wirbelsäulenimplantate sowie Kontrastmittelinjektoren für Computer- und Magnetresonanztomografen.
„In der Umsetzung sehen sich Hersteller spätestens seit dem Inkrafttreten der Anforderungen im Mai vergangenen Jahres mit regulatorischen Anforderungen konfrontiert, die aufgrund des bürokratischen Aufwandes und der damit verbundenen Kosten in einem internationalen Wettbewerb kaum zu stemmen sind.
Das darf nicht sein“, sagte Patrick Rapp, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg. Die Folgen seien bereits spürbar. Manche Produkte, die sich über viele Jahre bewährt hätten, würden nun gar nicht mehr angeboten. Ebenso seien Innovationshemmnisse und letztendlich Versorgungsengpässe in den Kliniken und Praxen erkennbar. Der BVMed geht davon aus, dass die Branche einen zweistelligen Milliardenbetrag aufbringen müsse, nur um unveränderte Produkte weiterhin im Markt zu halten.
Ende Februar hatten sich BadenWürttembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) und Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) in Brüssel für Erleichterungen bei der Medizinprodukteverordnung stark gemacht. Erleichterungen müsse es insbesondere für die Zertifizierung von Bestandsprodukten geben – aber auch für die Zertifizierung von innovativen Nischenprodukten, die nur für einen bestimmten Anwenderkreis mit seltenen Erkrankungen, was besonders oft bei Kindern der Fall ist, bestimmt sind, forderten die Minister. So könne verhindert werden, dass vor allem kleinere Unternehmen vom Markt verschwinden und ein Versorgungsengpass bei sicheren und innovativen Medizinprodukten entsteht.
In der Branche wird eine Verlängerung der Übergangsfrist für Bestandsprodukte von einem Jahr auf Mai 2025 gefordert. „Sonst schaffen wir das nicht, alle Produkte zu zertifizieren“, sagte Hilzenbecher stellvertretend. Denn neben der schieren Menge an Neuzertifizierungen herrscht auch ein eklatanter Mangel an Prüforganisationen, die im Fachjargon Benannte Stelle heißen. Julia Jäkle von der Schweizerischen Vereinigung für Qualitäts- und Managementsysteme, deren Konstanzer Tochter gerade eine Zertifizierung als Benannte Stelle in der EU anstrebt, weist darauf hin, dass 2024 alle Zertifikate gleichzeitig auslaufen würden. „Da gibt es einen extremen Stau“, sagt Jäkle.
Um die Medizintechnikbranche in Baden-Württemberg bei der Umsetzung der neuen Verordnung zu unterstützen, hatte das Wirtschaftsministerium im Sommer 2019 Mittel in Höhe von 2,5 Millionen Euro für ein Soforthilfeprogramm zur Verfügung gestellt. Damit sollten unter anderem gemeinschaftlich Basisdokumente für Zertifizierungsunterlagen erstellt und relevante Themen von Experten aufgearbeitet werden. Außerdem sollte der Zugang zu klinischen Studienzentren erleichtert werden, um der gestiegenen Notwendigkeit klinischer Prüfungen gerecht zu werden. Laut Staatssekretär Rapp hätten bereits 21 Prozent der Medizintechnikunternehmen im Südwesten direkt oder indirekt von der Soforthilfe profitiert.
Kritik daran kam von der Opposition. „Die Landesregierung kann froh sein, dass die Übergangsfristen inzwischen verlängert wurden“, sagte Niko Reith, wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP/DVP-Fraktion im Landtag. Denn ursprünglich hätte die komplette Umstellung auf die neue Regelung schon im Jahr 2020 abgeschlossen sein sollen, dann wäre jegliche Hilfe zu spät gekommen. Einmal mehr zeige sich, dass das Wirtschaftsministerium viel zu langsam und an den Bedarfen der Wirtschaft vorbei agiere.