Maultaschen am laufenden Band
2,5 Millionen produziert das Ditzinger Unternehmen Bürger täglich – Die schwäbische Spezialität landet längst nicht mehr nur im Süden auf dem Teller
Von Helena Golz
- Wie schmecken Maultaschen am besten? In der Brühe? Geschmelzt mit Zwiebeln und Kartoffelsalat oder geröstet in Scheiben und mit Ei in der Pfanne angebraten? Martin Bihlmaier, Chef des Maultaschen-Herstellers Bürger, hat da seine ganz eigene Antwort: „Vom Band schmecken sie am besten“, sagt der 48-Jährige. Wenn Bihlmaier die Produktion seines Unternehmens in Crailsheim im Landkreis Schwäbisch Hall besucht, ist es Teil der Qualitätskontrolle, dass er bei den gerade gekochten Maultaschen zugreift, um den Geschmack zu testen. „Wenn sie ganz frisch sind, dann schmeckt man die Gewürze am besten durch“, sagt der Schwabe. Bis er die fertige Maultasche probieren kann, muss sie auf der Produktionsstraße jedoch zunächst ordentlich Strecke zurücklegen – gemeinsam mit vielen anderen Maultaschen. Insgesamt laufen jeden Tag bei Bürger 2,5 Millionen Stück der schwäbischen Spezialität vom Band.
Dementsprechend fallen auch die Dimensionen in der Crailsheimer Produktion aus. In großen, ineinander verschachtelten Hallen arbeiten 22 Produktionslinien nebeneinander – nur wer sich auskennt, geht hier nicht verloren. Ein beständiges, lautes Maschinenrauschen ist zu hören, ebenso wie das Klappern der großen Stahlwannen auf Rädern, in denen Mitarbeiter die Zutaten von A nach B schieben. Der ganz spezielle Duft frischer Maultaschen schlägt einem sofort entgegen, wenn man die Hallen betritt.
Aber nicht nur Maultaschen in allen Variationen produziert Bürger für Kantinen, Mensen, Altenheime, Metzgereien, Tiefkühlkostvertreiber, Discounter und Supermärkte. Sondern an den verschiedenen Produktionslinien entstehen auch Schupfnudeln, Spätzle, Grießklößchen und andere Teigwaren.
Die Maultaschen aber sind Bürgers Aushängeschild. Hier ist der Produzent Marktführer – Weltmarktführer, wenn man so will. Für die Maultaschen werden jeden Tag tonnenweise Hartweißengrieß, Fleisch, Gemüse, Eier, Brotkrumen und Gewürze verarbeitet. Das genaue Rezept gibt der Chef selbstredend nicht preis.
Eine Maschine rührt zuerst Hartweißengrieß, Eier und Wasser zu einer Teigmasse. Durch eine Glasscheibe kann Produktionsmitarbeiterin Johanna Stein das Innere der Maschine beobachten, und schauen, ob der Teig locker fällt und ob immer genug Nachschub da ist. „Sonst läuft die Rührmaschine leer und die Produktion ist unterbrochen. Man muss immer auf alles einen Blick haben“, sagt die 58-Jährige, die bereits seit 1983 bei Bürger arbeitet.
Stein kam damals auf der Suche nach Arbeit aus Oberschlesien nach Crailsheim und fing als eine der ersten angelernten Mitarbeiterinnen in dem gerade neu eröffneten Bürger-Werk an. Maultaschen? Von der Lieblingsspeise vieler
Schwaben hatte die damals 19-Jährige noch nie etwas gehört. „Ich wurde praktisch ins kalte Wasser geschmissen“, sagte sie. Heute weiß Stein als eine der Dienstältesten so gut wie wohl niemand anderes, welche Stärke und Feuchtigkeit der perfekte Maultaschenteig haben muss, damit eine Walze ihn zu einer festen, aber gleichzeitig sehr biegsamen, hellgelben Teigbahn ausrollen kann. „Das hat man mittlerweile im Gefühl“, sagt sie.
Überall, wo man hinschaut, sieht man die langen Teigbahnen, die sich von der Rührmaschine zur Schneidemaschine spannen. Dort teilen Messer die Teigbahn längs in vier schmalere Stränge auf. Auf jedem wird anschließend genau mittig aus Düsen die Gemüse-Fleisch-Füllmasse gedrückt, die bereits in der Nacht in der Metzgerei nebenan vorbereitet wurde.
Automatisch werden die Teigbahnen mit der Füllmasse gefaltet und dann in Maultaschenlänge durchtrennt: Die etwa 60 Gramm schweren, rohen Taschen laufen jetzt in Reih und Glied auf einem Band in einen riesigen Dampfkocher ein. Dass jede Maultasche das richtige Gewicht hat, überprüft Johanna Stein auf einem Bildschirm.
16 Minuten lang fährt die Teigware auf dem Band durch den Dampfkocher und wird bei etwa 93 Grad gegart. „Das ist viel koordinierter und kontrollierter, als sie in einen riesigen
AUS DER Kochtopf zu werfen“, erklärt Bihlmaier.
Kommen sie frisch aus dem Kocher werden alle Maultaschen – wenn Martin Bihlmaier nicht eine für die Qualitätskontrolle stibizt – maschinell verpackt und laufen nun mit Plastikumhüllung weiter auf dem Band in die Kühlung. Sind sie auch dort hindurchgelangt, pflücken Mitarbeiterinnen die Verpackungen mit geübten Handgriffen vom Band und legen die nun kalte Ware in Kartons. Dann geht es vom Lastwagen in die Supermärkte und am Ende in den Einkaufwagen des Kunden.
Bei Bürger arbeiten größtenteils Frauen in der Produktion. Alle tragen einen weißen Kittel, eine Haarhaube und Abdeckungen über den Sicherheitsschuhen. „In Schönheit stirbt man hier nicht“, sagt Martin Bihlmaier schmunzelnd. Dafür seien aber beispielsweise die Corona-Hygieneregeln nichts Neues gewesen für das Unternehmen. „Wir waschen und desinfizieren uns ständig die Hände“, sagt Johanna Stein. „Außerdem haben wir keine Glasflaschen dabei, kein Essen, keinen Kaugummi.“Niemand darf Ohrringe oder Uhren tragen. In der Lebensmittelproduktion ist Hygiene das Allerwichtigste. Denn jeder noch so kleine Vorfall könnte die ganze Produktion lahmlegen. Und das wäre eine Katastrophe, zumal Maultaschen, Spätzle oder Schupfnudeln bei den Verbrauchern derzeit gefragt sind.
In der Corona-Krise waren Restaurants, Mensen und Kantinen geschlossen. Die Menschen mussten selbst an den Herd, und für viele waren vorgefertigte Lebensmittel, wie die von Bürger, dabei die erste Wahl. 2021 machte das Unternehmen, dessen Werk zwar in Crailsheim, der Hauptsitz aber in Ditzingen im Nordwesten Stuttgarts liegt, 216,6 Millionen Euro Umsatz. Bürger verkaufte insgesamt 88 622 Tonnen Lebensmittel. 1012 Mitarbeitende beschäftigt das Unternehmen, 818 davon in Crailsheim.
Ursprünglich hatte das Unternehmen ganz klein begonnen. 1934 war es von Richard Bürger in StuttgartFeuerbach gegründet worden. In den ersten Jahren belieferte es Metzgereien im Umland mit Mayonnaise, Fleisch und Ochsenmaulsalat. 1962 übergab Bürger, der keine Nachkommen hatte, das Unternehmen an seinen Freund, den bisherigen kaufmännischen Leiter Erwin Bihlmaier. Dessen Sohn, Richard Bihlmaier, führte die Geschäfte fort. Martin Bihlmaier, der jetzige Chef und Sohn von Richard Bihlmaier, wuchs also in eine Unternehmerfamilie hinein. Er kennt die Produktion noch aus seiner Teenagerzeit. Als 16-Jähriger half er bereits regelmäßig am Band mit. Daran erinnert sich auch Mitarbeiterin Johanna Stein. „Den Chef, den kenn’ ich schon, seit er klein ist“, sagt Stein. Sie mag es, in einem Familienunternehmen zu arbeiten, in dem das Management greifbar ist und auch mal vorbeikommt. Woanders als bei
Bürger arbeiten? Stein runzelt die Stirn. Das kann sie sie sich gar nicht vorstellen. Auch wenn das Unternehmen heute doch deutlich größer ist im Vergleich zu ihrer Anfangszeit und das Produktsortiment jetzt auch vegane oder glutenfreie Maultaschen umfasst mit teils eher unschwäbischen Füllungen wie Frischkäse oder Spinat.
Martin Bihlmaier verfolgt das Ziel, Bürger-Maultaschen in Deutschlands Norden bekannter zu machen. Der geografische Bekanntheitsgrad der der Legende nach einst von Zisterziensermönchen des baden-württembergischen Klosters Maulbronn erfundenen Maultasche, erstreckt sich nämlich doch immer noch vor allem auf das Schwabenland. Laut Zahlen des Lebensmitteleinzelhandels verzehrt der Bundesbürger im Schnitt circa acht Maultaschen im Jahr. Der Baden-Württemberger dagegen 34. Immerhin: In Großstädten wie Hamburg oder Berlin – nördlich des MaultaschenÄquators – sei man durch Plakat- und Radiowerbung mittlerweile deutlich bekannter geworden, betont Bihlmaier. Jetzt müssen die Bewohner der Großstädte nur noch herausfinden, wie die Maultaschen am besten schmecken: in der Brühe, geschmelzt oder angebraten, oder doch gleich direkt vom Band.
Ein Video mit Eindrücken aus der Produktion von Bürger sowie alle weiteren „Geschichten aus der Industrie“finden Sie im Netz unter www.schwäbische.de/industrie
Das 1934 gegründete Unternehmen Bürger mit Hauptsitz in Ditzingen produziert Schupfnudeln, Maultaschen und andere Teigwaren vor allem für den süddeutschen Markt. Die Abnehmer sind zu 30 Prozent Großkunden, wie Kantinen und Mensen, zu 30 Prozent Supermärkte, zu weiteren 30 Prozent Discounter und zu zehn Prozent Heimdienste wie Bofrost. Da viele Kantinen und Restaurants im Corona-Lockdown schließen mussten, brach Bürgers Umsatz 2020 um neun Prozent auf
203,6 Millionen Euro ein. 2021 erholte sich der Umsatz auf 216,6 Millionen Euro. Das Unternehmen ist laut Geschäftsführer Martin Bihlmaier profitabel. Im Vergleich zum Vorjahr konnte das Unternehmen seine Belegschaft um 32 Mitarbeiter aufstocken. Bürger habe aber generell Schwierigkeiten, Fachkäfte zu gewinnen, sagt Bihlmaier. Am Standort in Crailsheim baut Bürger ein neues Logistikzentrum. (hego)