Italien am Boden
256 Tage nach dem EM-Triumph hat der viermalige Weltmeister erneut die WM verpasst
(dpa) - Fußball-Italien liegt am Boden. Niedergestreckt vom kleinen Nordmazedonien, der eigenen Angst vor dem Scheitern und Defekten tief drin im System. Acht Monate nach dem Triumph von Wembley erleben die Azzurri in einer unwirklichen Nacht in Palermo einen neuen Tiefpunkt. Vom „größten Alptraum“stammelte Mittelfeldspieler Marco Verratti im Anschluss an das blamable 0:1, das das Aus in der WM-Qualifikation bedeutet. Die Europameister sind im Spätherbst in Katar zum Zuschauen verdammt, der „Corriere dello Sport“wähnt die Italiener gar „in der Hölle“.
Solche Begriffe sind in Zeiten, wo anderswo in Europa Menschen tatsächlich das schlimmstmögliche Leid erfahren, sicher unpassend. Für den in dem Mittelmeerland heiligen Fußball aber ist dieser K.o. laut Zeitung „Tuttosport“ein „Desaster von biblischen Ausmaßen“.
Am Freitagmorgen raunten sich manche Italiener zu, wie viele Kinder es doch bald geben werde, die noch nie eine Squadra Azzurra bei einer WM gesehen haben. Letztmals war Italien 2014 in Brasilien dabei – und dort ohne Sieg in der Vorrunde gescheitert. Damals war übrigens ebenso von einem historischen Tiefpunkt die Rede wie später bei der verpassten Quali für die WM 2018. Nun ist alles noch schlimmer, der EM-Erfolg war doch eine Einmonatsfliege und kein Zukunftssignal.
Dabei hatte Italien schon vor dem Showdown gegen Nordmazedonien, den Aleksandar Trajkovski in der Nachspielzeit (90.+2) entschied, viele Chancen, das Debakel zu vermeiden: In zwei Qualipartien gegen die Schweiz klappte der Sieg nicht, beide Mal vergab Jorginho einen Elfmeter.
Vor allem die Schwäche im Sturm um den im Verein so treffsicheren und bei der Nationalelf, auch am Donnerstag, so harmlosen Ciro Immobile
führte zu dem Schlamassel. „Wir wissen nicht mal, warum es überhaupt so weit kommen konnte“, sagte Nationalcoach Roberto Mancini.
Natürlich wurde schnell die Trainerfrage gestellt. Mancini hat noch einen Vertrag bis 2026, aber kann man nach so einer Niederlage im Job bleiben? Kapitän Giorgio Chiellini hofft, dass Mancini weitermacht. Und auch Verbandschef Gabriele Gravina wünscht sich einen Verbleib Mancinis. Der Trainer selbst wollte zunächst nicht über seine Zukunft spekulieren, diese „größte Enttäuschung“seines Fußballerlebens müsse er erst verdauen.
Für den Fall eines Mancini-Rücktritts wird schon über Fabio Cannavaro als Nachfolger gemunkelt. Das Trainerleben des Weltmeister-Kapitäns von 2006 spielte sich bislang in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und China ab. Wie es heißt, könnte dem 48-Jährigen als Sportdirektor der Routinier Marcello Lippi zur Seite gestellt werden.
Für Franco Foda (Foto: Imago) könnte sein 48. Länderspiel als Teamchef der österreichischen Fußballnationalmannschaft sein letztes gewesen sein. Nach der verpassten WM-Qualifikation durch das 1:2 am Donnerstagabend gegen Wales ist der 55-jährige Deutsche zumindest am kommenden Dienstag im Testspiel gegen Schottland noch eingeplant. „Da wird Foda noch auf der Bank sitzen“, sagte ÖFB-Präsident Gerhard Milletich im ORF-Interview. Wer die Auswahl in den Nations-League-Spielen im Juni betreuen wird, ist offen – auch wenn Milletich eine Verlängerung mit Foda nicht komplett ausschloss. Fodas Kontrakt endet durch das Verpassen der WM in Auch Real Madrids Carlo Ancelotti ist – mal wieder – ein Kandidat.
Dabei geht es nun nicht darum, einfach nur Personal auszutauschen. Der italienische Fußball gehört grundlegend reformiert, das ist die einhellige Meinung der Analysten und Experten. Dieser sei „kulturell rückständig, es gibt keine neuen Ideen. Die anderen Nationen entwickeln sich, wir sind auf dem Stand von vor 60 Jahren geblieben“, sagte Ex-Coach Arrigo Sacchi der „Gazzetta dello Sport“.
Die Mängelliste ist lang. „Unsere Jugendabteilungen sind voll mit Spielern aus dem Ausland, die gekauft werden wie Obst und Gemüse. Die Clubs sind höchst verschuldet, die Teams gewinnen außerhalb Italiens nichts mehr und niemandem sagt es etwas?“, fragte Sacchi provokant.
Seit dem Champions-League-Triumph von Inter Mailand 2010 hat kein Serie-A-Team mehr einen großen Vereinspokal gewonnen. Damals kam für Inter im Finale gegen
Katar am 31. März. „Wir müssen eine Lösung finden, die kann mit oder ohne
Foda sein“, sagte Milletich. Eine Entscheidung soll im April fallen. „Wichtig ist, dass man nach dem Spiel keine emotionalen Aussagen tätigt, sondern Ruhe bewahrt. In den nächsten Tagen werden wir dann über andere Dinge reden“, sagte Foda. Österreich wartet seit 1998 auf eine WM-Teilnahme, die Qualifikation für die EM hatten Foda und sein Team geschafft. „Ich bin mit vollem Stolz Nationaltrainer von Österden FC Bayern übrigens nur ein Italiener zum Einsatz: Verteidiger Marco Materazzi wurde in der Nachspielzeit eingewechselt. Apropos Materazzi: Spötter erinnerten am Freitag daran, dass Italien seit dem WM-Finale 2006 mit dem KopfstoßEklat zwischen Materazzi und Zinedine Zidane kein WM-Spiel mehr gewonnen hatte – und nun für vier weitere Jahre keines gewinnen wird. Es ist vom Fluch die Rede wegen Materazzis Beleidigung gegen den Franzosen.
All diese Analysen lindern den Schmerz der Nationalspieler und ihrer Fans freilich nicht. Zu allem Überfluss muss das Team nächste Woche auch noch zum Spiel der Enttäuschten in die Türkei fliegen, anstatt im Finale der Play-offs in Portugal um die WM-Teilnahme zu kämpfen. „Wir müssen wieder aufstehen“, sagte Chiellini, ehe er in die Nacht verschwand. Der ferne Blick auf die WM 2026 in Nordamerika fiel schwer. Immerhin dürfen dann erstmals 48 Nationen teilnehmen. reich“, so Foda. Was für seine Verlängerung spreche, könne er nicht entscheiden: „Das müssen andere Personen beurteilen, die nah an der Mannschaft dran sind, die sehen, wie wir arbeiten.“Foda konnte 27 seiner bisherigen 47 Spiele gewinnen. Nur Hugo Meisl fuhr mit 71 mehr Siege ein. Doch in den vergangenen viereinhalb Jahren hat Foda nicht ein Pflichtspiel gegen ein Team gewonnen, das in der Weltrangliste vor Österreich steht. „Klar war die WM-Qualifikation nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir sind alle extrem enttäuscht“, sagte Foda nach dem Duell gegen Wales. „Aber wir haben in den letzten Jahren viel bewegt, wir haben einiges erreicht.“(dpa)