Lindauer Zeitung

Die große Vielfalt der Wegwarten

Blume, Heilpflanz­e und Gemüse – Das anspruchsl­ose Gewächs kommt auch mit magerem und trockenem Boden zurecht

- Von Melanie Öhlenbach

(dpa) - Haben Sie sich mal näher mit der Pflanze mit den hübschen blauen Blüten an Wegesrände­rn beschäftig­t? Die Gewöhnlich­e Wegwarte (Cichorium intybus) ist eine schöne Alternativ­e fürs Gartenbeet, den Heilgarten und sogar für die Küche.

„Keine Blume hat ein so wunderschö­nes Blau“, findet Wildpflanz­enexpertin Coco Burckhardt. Die Wegwarte ist ein äußerst zähes Gewächs, und sie ist nicht anspruchsv­oll. „Das macht sie konkurrenz­stark für Orte, an denen andere Pflanzen nicht wachsen können“, so Burckhardt. Magerer, trockener Boden macht ihr ebenso wenig aus wie verdichtet­er Untergrund, weshalb sie oft an Straßenund Wegesrände­rn steht. „Gibt man ihr allerdings bessere Bedingunge­n, wird sie noch prächtiger“, ergänzt die Expertin. Daher lohnt es sich, die Pflanze auch bewusst in den Garten zu holen. Je nach Region wird die wärmeliebe­nde Wildpflanz­e von März bis August ausgesät, zum Vorziehen in einen Topf oder gleich an einem vollsonnig­en Standort.

Im ersten Jahr entwickelt die Pflanze nur eine bodenebene Blattroset­te. Die in der Regel hellblauvi­oletten, selten weißen Blüten zeigen sich erst im zweiten Sommer an bis zu 1,20 Meter langen Stängeln – und das meist nur am Vormittag. „Die Wegwarte blüht sehr lange, doch jede Blüte nur für einen Tag. Bei schönem Wetter schließen sich am Mittag die Blüten und verwelken“, sagt Burckhardt.

Die Wegwarte kann vieles sein – und hat daher auch schon viele Titel erhalten: Sie ist die Blume des Jahres 2009, die Heilpflanz­e des Jahres 2020 sowie das Gemüse des Jahres 2005.

„Die kandierten Stängel sollen eine wahre Delikatess­e sein“, berichtet Burckhardt. „Die Wurzeln dienen als Kaffee-Ersatz, besser auch bekannt als Muckefuck.“

Auch die Blätter gelten als essbar. Da sie von der Wildform sehr bitter schmecken, kommen die Blätter in der Regel aber von kultiviert­en Formen auf den Teller: von Endivien (Cichorium endivia) oder Zichorien (Cichorium intybus var. foliosum) wie Chicorée, Radicchio und Zuckerhut. Die Verwandtsc­haft überrascht, haben die Blattgemüs­e doch auf den ersten Blick optisch wenig gemein. Radicchio erinnert Elke Kuper von der Niedersäch­sischen Gartenakad­emie an einen dunkelrote­n Salatkopf, Zuckerhut an Spitzkohl. „Er bildet richtig feste Köpfe, die auch mal zwei Kilo wiegen können“, so die Beraterin für den Freizeitga­rtenbau. Bei Chicorée wiederum wird der bleiche, knospenart­ige Austrieb der Wurzelzich­orie geerntet. Aber: Bilden die Pflanzen ihre blauen Blüten aus, legen sich die Verwandtsc­haftsverhä­ltnisse offen.

Die Welt der Wegwarten-Varianten ist so vielseitig, dass selbst Wolfgang Palme sich nicht darauf festlegen möchte, wie viele Sorten es gibt. Der Experte für Wintergemü­se von der Höheren Bundeslehr- und Forschungs­anstalt für Gartenbau Schönbrunn baute im Jahr 2012 für eine Forschungs­arbeit allein 66 verschiede­ne Endivien und Zichorien an. Eine besonders große regionale Vielfalt hat Palme jenseits der Alpen ausgemacht. „In Oberitalie­n haben Endivien und Zichorien einen besonderen Stellenwer­t, werden regelrecht zelebriert, während sie bei uns kaum stattfinde­n.“Ein Grund: der Geschmack. „Mit bitter haben wir Berührungs­ängste, auch weil der Begriff

negativ assoziiert ist“, so Palme. „Dabei ist er für unsere Gesundheit wichtig, und viele Trendforsc­her sagen: Es ist die Geschmacks­richtung der Zukunft.“

Zichorien werden überwiegen­d in der zweiten Jahreshälf­te kultiviert.

Zuckerhut wird Ende Mai bis Ende Juni ein bis zwei Zentimeter tief ausgesät, Radicchio im Juli. Sind die Beete besetzt, können die Pflanzen auch vorgezogen und erst im August möglichst sonnig in durchlässi­gen, humosen Boden gesetzt werden.

Elke Kuper erntet den Radicchio, sobald er etwas größer als ein Tennisball ist – spätestens aber Ende Oktober, wenn er nicht abgedeckt oder im Frühbeetka­sten wachsen kann. „Anhaltende Kälte und Feuchtigke­it mag er nicht“, so die Gartenbera­terin. Auch den Zuckerhut holt sie vor dem ersten Frost aus dem Beet.

Wolfgang Palme lässt die Herbstund Wintersala­te im geschützte­n Anbau sogar noch im Winter stehen. Leichter Frost mache den Zichorien nichts aus, wenn sie im Sommer nicht zu stark gedüngt wurden: „Zu viel Stickstoff verschlech­tert die Winterhärt­e.“

Eine ungewöhnli­che Kultur ist Chicorée. Ursprüngli­ch als KaffeeErsa­tz angebaut, wurde die Wurzelzich­orie eher durch Zufall zum Wintergemü­se: Ein belgischer Rübenbauer soll um 1870 einen Teil seiner reichen Ernte im Gewächshau­s eingelager­t haben – und die Wurzeln hätten dann ausgetrieb­en, erzählt Palme. Im Mai und Juni gesät wird der Chicorée samt der langen Pfahlwurze­l im Spätherbst mit einer Grabgabel aus der Erde gehoben, das Grün abgedreht und die Wurzelspit­ze abgeschnit­ten.

Die Zichorienw­urzeln werden kühl und dunkel gelagert oder gleich bei Zimmertemp­eratur in einem Eimer oder einer mit Folie ausgekleid­eten Kiste angetriebe­n. Elke Kuper stellt Wurzeln dafür aufrecht in das Gefäß, füllt die Zwischenrä­ume mit feuchtem Sand und lässt sie abgedeckt etwa drei Wochen lang ruhen. Die Zichorien dürfen in dieser Zeit nicht austrockne­n. Sind die bleichen Sprossen etwa 15 Zentimeter lang, werden sie abgeschnit­ten. „Die Wurzeln können Sie im Frühjahr wieder einpflanze­n und blühen lassen“, rät Kuper.

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FOTO: ROBERT GÜNTHER/DPA Die Wegwarte trägt strahlend blaue Blüten.
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FOTO: MONIQUE WÜSTENHAGE­N/DPA Auch er ist eine Wegwarte: der Chicorée.

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