„Infolge des hohen Personalmangels können neun von zehn Kitas die Aufsichtspflicht nicht mehr durchgängig garantieren.“
Die grüne Plastiktischdecke ist von Spuren früherer Mal- und Bastelversuche gezeichnet. Knetreste und Buntstiftstriche zeigen, wo die Kinder über die Ränder von Papier und Knetunterlagen gemalt haben. Anja Halder sitzt neben einem Jungen am Basteltisch, gemeinsam schneiden sie ein beiges Papierosterei aus. „Malst du gleich noch das Ei für die Mama und den Papa mit mir an?“, fragt Halder. Seit Oktober 2020 leitet sie den Katholischen Kindergarten St. Martin in Hauerz (Kreis Ravensburg).
Doch im Südwesten fehlt immer wieder Personal in den Kitas, Eltern suchen einen Betreuungsplatz für ihre Kinder und landen auf der Warteliste. Im Kindergarten von Anja Halder gibt es 53 Plätze für Kinder aus der Kommune Bad Wurzach und umliegenden Gemeinden. Auch hier gibt es eine Warteliste. Neben Halder kümmern sich fünf Fachkräfte um die Kleinen. Zwei davon sind in Vollzeit angestellt, die anderen drei haben Teilzeitstellen von 38 bis 50 Prozent. Dazu kommt eine Reinigungskraft. Die Kinder zu begleiten, mit ihnen Antworten zu suchen und zu lernen, wird in Baden-Württembergs Kitas für die Erzieher immer schwieriger. Das merkt auch Halder, obwohl alle Stellen in ihrem Kindergarten besetzt sind.
In vielen Kitas sieht es anders aus. Bis 2030 könnten über 40 000 Jobs in Baden-Württembergs Kindergärten unbesetzt sein. Das stellt der Gemeindetag in seinem Positionspapier „Kita-Fahrplan 2025“dar. Um dem bereits bestehenden Mangel an Fachkräften zu begegnen, fordert der Gemeindetag deshalb kurzfristige Maßnahmen. Dazu gehört eine befristete Regelung, um die bestehende Anzahl an Kindern in den einzelnen Gruppen zu erhöhen. Gleichzeitig könnte die Zahl der Erzieher, die sich um die Kinder kümmern, übergangsweise reduziert werden. Mehr Kinder für weniger Erzieher? Anja Halder ist von dieser Idee alles andere als begeistert.
„Das könnte mit einer Kündigungswelle einhergehen. Das wären Umstände, da wird man den Kindern nicht mehr gerecht“, sagt Halder. Damit könnten Erzieher ihren Protest gegen der Maßnahme zum Ausdruck bringen. „Wenn ich dann 20 Prozent weniger Personal habe, das würde bei uns heißen, einen Tag wäre man alleine in einer Gruppe von dann 30 Kindern.“Da sei ein Nervenzusammenbruch für die Erzieher programmiert. Und eine Aufsichtspflicht könnte man auch nicht mehr garantieren. Aus Sicht der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg (GEW) machen die Vorschläge des Gemeindetags den Erzieherberuf zudem unattraktiver. „Das wäre kurzsichtig und würde den Fachkräftemangel sogar verstärken. Wie sollen junge Menschen für diesen Beruf begeistert werden, wenn die Arbeitsbedingungen weiter verschlechtert werden?“, sagt Geschäftsführer Matthias Schneider.
Obwohl der Kindergarten von Anja Halder personell gut besetzt ist, fällt es sofort auf, wenn eine Kollegin krank sei. „Wie diese Woche“, sagt die 36-Jährige. „Die Kollegin ist krank, für mich heißt das dann, ich kann nur die Hälfte meiner Leitungszeit nehmen, weil ich die restliche Zeit bei den Kindern im Gruppendienst sein muss.“Die Kinder hätten Vorrang, immer. „Papier ist geduldig, die Kinder nicht. Aber man merkt, dass Vertretungskräfte
fehlen. Und in Einrichtungen, in denen auch wirklich Personal fehlt, ist es ganz klar, das muss sich ja irgendwo niederschlagen“, sagt Halder. Auch der Bund hat dieses Problem erkannt und mit dem Gute-Kita-Gesetz fließen rund 729 Millionen Euro von 2019 bis 2022 nach Baden-Württemberg. Ein Baustein ist die Leitungszeit, mit der die Kita-Leitungen mehr Zeit für die pädagogische Arbeit und Personalentwicklung erhalten sollen.
Halder betreut mit zwei Kolleginnen die Zwei- bis Vierjährigen. Fehlt dann eine Erziehungskraft, müssten die anderen beiden 15 Kinder betreuen. Da sei klar, dass nicht auf die einzelnen Bedürfnisse der Kinder eingegangen werden kann. „Da kann man immer nur an die Kommunen appellieren, dass sie einen guten Vertretungspool einrichten“, sagt sie. In vielen anderen Kitas in Baden-Württemberg haben die Leitungen Probleme, der Aufsichtspflicht gerecht zu werden.
Der Deutsche Kitaleitungskongress hat 2021 eine Studie veröffentlicht, an der sich über 2200 Kita-Leitungen aus Baden-Württemberg beteiligt haben. Das Ergebnis: „Infolge des hohen Personalmangels können neun von zehn Kitas die Aufsichtspflicht nicht mehr durchgängig garantieren“, sagt Walter Beyer vom Verband Bildung und Erziehung (VBE). „Die Fachkraft-Kind-Relation weicht in den meisten Fällen weit und nicht selten dramatisch von der wissenschaftlichen Empfehlung ab.“
Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt, dass eine Erzieherin bei den unter Dreijährigen höchstens für drei Kinder verantwortlich sein sollte. Für die Altersgruppe ab drei Jahren sollte sich eine Erzieherin um nicht mehr als 7,5 Kinder kümmern. Baden-Württemberg entspreche neben Bremen noch am ehesten diesen Empfehlungen. Demnach liegt das Verhältnis Erzieher zu unter Dreijährigen bei 1 zu
3,3 und zu den über Dreijährigen bei 1 zu 8. Trotzdem fehlen auch in Baden-Württemberg Fachkräfte in den Kitas. Wenn Anja Halder die Zahlen zu den Erziehern hört und an die Zukunft denkt, will sie trotzdem weitermachen. „Es kann ein ganz wertvoller und wunderschöner Beruf sein, wenn wir wieder das machen dürfen, was wir machen wollen und gelernt haben“, sagt sie. Deshalb sei sie auch im Vorstand des Verbands der Kita-Fachkräfte in Baden-Württemberg und setze sich für bessere Arbeitsbedingungen in den Kitas ein. „Ich gehöre zu denen, die Hoffnung haben. Die, die keine Hoffnung haben, die haben uns schon verlassen. Und die kriegen wir auch nicht wieder“, so Halder. Im Verband merke sie immer wieder, dass vor allem die bestehenden Rahmenbedingungen das Arbeiten in den Kitas erschwerten und Fachkräfte zur Berufsaufgabe bringen. „Es sind die vielen Kinder, es ist das ständig fehlende kranke Personal ohne Vertretungskräfte“, sagt sie.
Dazu käme die ganze Bürokratie, die sich vor allem durch die Corona-Vorschriften erhöht hätte. Um die Arbeitsbedingungen für Erzieher zu verbessern, brauche es einerseits mehr Fachkräfte. Vor allem die PiA, die Praxisintegrierte Erzieherausbildung, hilft laut Halder ein Stück weit, die Attraktivität des Erzieherberufs zu steigern. Bei der PiA, die seit dem Schuljahr 2012/2013 in Baden-Württemberg angeboten wird, erhielten die Auszubildenden einen realistischen Blick auf die Praxis. Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, würde die PiA aber nicht reichen. „Man müsste wirklich schauen, was sind denn Aufgaben, die Erzieherinnen nicht machen müssen, die man abgeben kann. Gerade Wäsche waschen, Tische abputzen, durchkehren. In jede Einrichtung gehört eine Hauswirtschaftskraft“, sagt Halder. Außerdem könnten Träger, die mehrere Kita-Einrichtungen stellen, Elternbriefe über ein Sekretariat herausgeben. Dadurch könnte auch die Kita-Leitung entlastet werden. „Natürlich muss man auch zum Fachkräftemangel schauen. Gibt es geeignete Quereinsteiger, die man nachqualifizieren kann? Und dann müssen die aber auch wirklich mit entsprechenden Standards nachqualifiziert werden.“
Das Kultusministerium hat im Dezember eine Initiative mit den Trägern der Kindergarteneinrichtungen, dem Kommunalverband Jugend und Soziales und Gewerkschaften und weiteren gestartet, um dem bestehenden Fachkräftemangel zu begegnen. „Ziel des Vorhabens ist es, weitere Maßnahmen zu entwickeln, wie die Situation auf dem Fachkräftemarkt angegangen werden kann“, sagt ein Ministeriumssprecher. Ergebnis soll ein Maßnahmenpaket sein, an dem bis Mai 2022 sechs Arbeitsgruppen arbeiten. Diese machen sich zum Beispiel dazu Gedanken, wie der Übergang von der Ausbildung in den Beruf verbessert oder das Berufsfeld für Fachkräfte langfristig attraktiver gemacht werden kann.
Teil einer dieser Arbeitsgruppen ist Simone Müller, Familienbeauftragte der Stadt Ravensburg und Leiterin des Projekts „Fachkraft
Kita – Fachkraft für Kinder in Ravensburg“. Zusammen mit dem Projektteam um Franziska Schmeh und Sybille Theobald, Geschäftsführerin des Montessori Kinderhauses
Ravensburg, arbeitet sie im Rahmen des Förderprogramms „Trägerspezifische innovative Projekte“(TiP) des Landes an einer Imagekampagne für Kita-Fachkräfte in Ravensburg. „Pandemiebedingt gibt es mehr Ausfälle. Wenn möglich kürzen die Kitas dann in Absprache mit den Eltern die Randzeiten und schließen nachmittags früher“, sagt Müller. Manchmal würden auch Eltern einspringen, wenn nicht genug Vertretungen vorhanden seien. Mit dem „Fachkraft Kita“-Projekt sollen Auszubildende und Personal gewonnen werden. Mit den Fördermitteln können auch mehr Stellen für das Freiwillige Soziale Jahr finanziert werden, außerdem sollen KitaKräfte im Umgang mit Praktikumsanfragen geschult werden.
Bisher sind in Ravensburg alle Kinder in den Kindertagesstätten untergekommen. Sorge bereitet Müller aber der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder. Der soll im Schuljahr 2026/ 27 eingeführt werden. Wer die Kinder betreuen soll, ist noch nicht klar. Auch Anja Halder fragt sich, wo die Fachkräfte für die Schulkindbetreuung herkommen sollen. „Ich finde sie legitim und nötig und schon längst überfällig. Aber ich hätte gerne ein Konzept, wie das alles umgesetzt werden soll“, sagt sie.
Immerhin, seit dem Schuljahr 2007/2008 baut das Land die Kapazitäten in der Erzieherausbildung aus. Im Jahr 2008/ 2009 haben 2855 Schüler eine Erzieherausbildung an einer Fachschule für Sozialpädagogik begonnen. Im vergangenen Schuljahr waren es 5425. Damit hat sich die Zahl fast verdoppelt. Gleichzeitig stiegen aber die jährlichen Geburten in Baden-Württemberg von 2007 bis 2020 um rund 16,4 Prozent von 92 823 auf 108 024. „Die Zahl der betreuten Kinder in den Einrichtungen nahm bis 2021 um rund 20 Prozent zu, auch bedingt durch Zuzug“, sagt Bettina Stäb vom Gemeindetag.
Durch die aktuelle Krisensituation in der Ukraine könnte sich der Fachkräftemangel weiter verschärfen. Anja Halder und Simone Müller äußern sich skeptisch dazu, dass Kinder aus der Ukraine einfach in Kita-Gruppen eingebracht werden. „Ich kann jetzt nicht sagen: Ich habe eine Warteliste und die Kinder aus der Ukraine nehme ich auf und die Kinder vor Ort müssen warten. Das gibt eine gesellschaftliche Unwucht“, sagt Halder. „Das Nächste ist, ich muss schauen, wollen die Familien das überhaupt, in die Betreuung.“Sie denkt, dass mit begleiteten Spielgruppen mit pädagogischem Fachpersonal und Traumapädagogen gearbeitet werden sollte. Dafür würden aber auch wieder Fachkräfte benötigt werden. Halder erhält im Verband für KitaFachkräfte immer wieder Hilferufe von Kollegen. „Wir sind personell so unterbesetzt. So kann und so will ich nicht mehr arbeiten“, heißt es dann. Es gebe dann aber auch einen Punkt, wo man sagen muss: So nicht!, sagt Halder. Dann sollten die Kita-Leitungen auf die Träger zugehen. „Solange wir das alles ermöglichen, wird es niemals auffallen, dass eigentlich das System Kita schon sehr an der Belastungsgrenze ist“, sagt Halder.
Walter Beyer, Verband Bildung und Erziehung