„Nicht alles auf einmal zurücknehmen“
Stiko-Chef Thomas Mertens plädiert für ein Stufensystem bei der Abschaffung von Corona-Maßnahmen
- Seit Sonntag sind die Corona-Beschränkungen in Baden-Württemberg weitestgehend passé. Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko) über die Auswirkungen und die aktuelle Infektionslage.
Am Sonntag sind die meisten Corona-Schutzmaßnahmen gefallen. Halten Sie dies angesichts der aktuellen Pandemielage für vertretbar?
Ich halte es für vernünftig und sinnvoll, die Schutzmaßnahmen vor Infektion stufenweise zurückzunehmen und sich hinsichtlich der Geschwindigkeit des Vorgehens am Rückgang der Infektionszahlen (Inzidenz), der Krankenhausaufnahmen und der Covid-19 bedingten Arbeitsausfälle zu orientieren. Es wäre auch sinnvoll die Rücknahme so zu vollziehen, dass man den Effekt der Zurücknahme einzelner Maßnahmen beobachten kann – also nicht alles auf einmal zurücknehmen. Je höher die Infektionszahlen sind, desto mehr Menschen mit Risiko werden – auch bei durchschnittlich milderem Verlauf – erkranken und gegebenenfalls stationärer Behandlung bedürfen. Vorerkrankte Menschen mit Risiko für schwereren Covid-19 Verlauf, vor allem wenn sie nicht vollständig geimpft sind, und ebenso Immunsupprimierte sollten sich unbedingt selbst weiter vor Infektion schützen.
Welche Erkenntnisse gibt es derzeit zu der als „Deltakron“bezeichneten Virusvariante und wie sind diese für den weiteren Verlauf der Pandemie einzuschätzen?
Deltakron oder „Deltamicron“, wie die französischen Forscher das Virus genannt haben, ist eine Rekombinante zwischen der Deltavirusvariante und der Omikronvirusvariante von Sars-Cov-2. Derartige Rekombinanten zwischen anderen Sars-Cov-2 Varianten wurden auch bereits beschrieben. Was ist passiert? Wenn sich ein Mensch gleichzeitig mit zwei unterschiedlichen Varianten infiziert, dann können auch einzelne Zellen in seinem Körper gleichzeitig durch die beiden Varianten infiziert werden. In einer solchen Zelle kann es dann zu sogenannten Rekombinationen auf Ebene der beiden verschiedenen VirusRNAs kommen. Im Ergebnis entsteht ein neues, gemischtes RNAMolekül, das dann zu einer neuen Virusvariante führen kann. Bei Deltamicron besteht das virale RNAGenom aus Genom-Anteilen von „Delta“und Anteilen von „Omikron“. Deltamicron (offiziell BA.1xAY.4) wurde mittlerweile in mehreren Ländern isoliert – auch in Deutschland. Bislang gibt es keinen Hinweis darauf, dass diese Rekombinante besorgniserregend im Hinblick auf krankmachende Eigenschaften oder stärkere Immunflucht ist. Andererseits zeigt es, dass Rekombinanten prinzipiell auftreten können, was insgesamt nach entsprechenden Untersuchungen selten ist, aber natürlich auch abhängt von der Häufigkeit solcher „Doppelinfektionen“.
Medien berichten, es könnte zu einer Untererfassung von Impfschäden kommen. Wie schätzen Sie dies ein und was ist aktuell über Impfschäden bekannt?
Weltweit sind mehr als 11 Milliarden Menschen geimpft worden. In allen Ländern gibt es Systeme zur Überwachung von Nebenwirkungen und schweren Nebenwirkungen der Impfung. Dies wird sicher in den Ländern unserer Welt mit unterschiedlichen Systemen und auch mit unterschiedlicher Genauigkeit und Sorgfalt gemacht, aber sehr viele Länder machen das sehr sorgfältig. Teilweise erfolgt dies auch mit Impfregistern (z.B. Skandinavien), in denen jeder Geimpfte erfasst wird und nachverfolgbar ist. In Deutschland ist nach dem Gesetz das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) für diese Überwachung (sogenannte Pharmakovigilanz) zuständig. Das PEI veröffentlicht regelmäßig aktualisierte Berichte, die jeder im Internet unter PEI.de leicht finden kann. Nicht jeder gemeldete Verdachtsfall hängt tatsächlich mit einer Impfung ursächlich zusammen, sondern stellt ein statistisch zufälliges Zusammentreffen dar. Deshalb ist es besonders wichtig, dass fortlaufend geprüft wird, ob eine bestimmte Symptomatik/Erkrankung bei Geimpften häufiger auftritt als in der ungeimpften Bevölkerung (auch früher). So sind auch die Myokarditis und Thrombosen nach Impfung entdeckt und quantifiziert worden. Sehr wichtig ist die Unterscheidung zwischen typischen Impfreaktionen (Rötung, Schwellungen und Schmerzen an der Impfstelle, auch Allgemeinreaktionen, wie Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen und Unwohlsein), seltenen meldepflichtige Impfkomplikationen und sehr seltenen Impfschäden mit Entschädigungsrecht. Jeder kann Verdachtsfälle melden. Die Informationen beim PEI kann jeder abrufen, und auch die internationalen Daten werden meist veröffentlicht (z.B. USA, UK, Israel). Die Fixierung auf die Frage der Impfschäden ist unsinnig. Ohne Impfungen lassen sich Gesundheitsprobleme durch Infektionserreger in Deutschland und weltweit nicht lösen.