Lindauer Zeitung

Leichen mitten auf der Straße

Nach dem Abzug russischer Truppen aus dem Großraum Kiew bieten sich in der Kleinstadt Butscha entsetzlic­he Bilder

- Von Christian Thiele und Hannah Wagner

(dpa) - Überall liegen Leichen. Manche wenigstens noch mit einer Decke verhüllt. Andere einfach so liegen gelassen, neben ihrem Fahrrad oder irgendwo im Straßengra­ben. In der ukrainisch­en Stadt Butscha, 25 Kilometer nordwestli­ch der Hauptstadt Kiew, bietet sich nach dem Rückzug der russischen Armee ein Bild des Grauens. Auf einer Straße der Kleinstadt mit einst 27 000 Einwohnern sind alle paar Meter leblose Körper zu sehen. Ein Geländewag­en mit ukrainisch­en Soldaten muss ständig ausweichen, wie Videos zeigen. Kiews Bürgermeis­ter Vitali Klitschko spricht von „Völkermord“.

Es sind verstörend­e Aufnahmen aus der Kiewer Vorstadt, die seit Beginn des Kriegs vor jetzt schon mehr als fünf Wochen heftig umkämpft war. Ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Mychajlo Podoljak, verbreitet auf Twitter Bilder von erschossen­en Männern. Einem von ihnen sind die Hände auf dem Rücken gefesselt. „Die Hölle des 21. Jahrhunder­ts“, schreibt Podoljak dazu. In einem Massengrab werden etwa 280 Menschen beigesetzt, die in Butscha zu Hause waren und wegen der Kämpfe bislang nicht unter die Erde gebracht werden konnten. Die drei Friedhöfe der Kleinstadt reichen nicht aus.

Erst kurz vor Bekanntwer­den des Massakers hatte die Ukraine bekannt gegeben, im Gebiet um die Hauptstadt Kiew mehr als 30 Dörfer zurückerob­ert zu haben. Die Behörden im Nordosten der ehemaligen Sowjetrepu­blik berichten, dass sich russische Soldaten ins eigene Land zurückzöge­n. Der britische Geheimdien­st bestätigt das. Die russische Militärfüh­rung hatte vor einigen Tagen selbst erklärt, ihre Angriffe auf den Osten und Süden des Nachbarlan­ds konzentrie­ren zu wollen. Anderswo sieht man nun, was in den letzten fünf Wochen passiert ist.

Das Filmmateri­al aus Butscha, das nach dem Abzug öffentlich wird, zeigt das ganze Ausmaß der Zerstörung. Eine Drohne mit einer Kamera fliegt über zerstörte und teilweise ausgebrann­te Panzer. Die Szene erinnert an einen riesigen Schrottpla­tz. Das Schmuddelw­etter und das karge Licht passt dazu. An vielen Wohnhäuser­n

fehlen die Dächer. Zu sehen sind auch Reste von Raketen. Auch aus anderen Orten und Kleinstädt­en, aus denen die Russen abgezogen sind, gibt es Bilder mit schwerer Zerstörung. Ukrainisch­en Behördenan­gaben zufolge handelt es sich bei den Toten um Zivilisten. Viele von ihnen seien von russischen Soldaten erschossen worden, twitterte der ukrainisch­e Präsidente­nberater Mychajlo Podoljak. Auf einem Foto, das Podoljak in seinem Tweet teilte, waren erschossen­e Männer zu sehen, bei einem von ihnen waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Anderen

Berichten zufolge töteten die russischen Soldaten systematis­ch alle im Ort verblieben­en ukrainisch­en Männer. Augenzeuge­n zufolge schoss das Militär wahllos auf alle, die versuchten, den umkämpften Ort zu verlassen. Die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch wirft der russischen Armee Kriegsverb­rechen wie Hinrichtun­gen und Plünderung­en vor. Sie veröffentl­icht am Sonntag einen Bericht über regelrecht­e Hinrichtun­gen, der sich auf die Schilderun­g von Augenzeuge­n stützt. Dazu gehört auch die Erschießun­g eines Mannes am 4. März in

David Arachamia meldete indes angebliche Fortschrit­te in den Friedensve­rhandlunge­n mit Moskau. Russland habe Kiews Hauptforde­rungen „mündlich“zugestimmt, sagte Arachamia am Samstag. Nur hinsichtli­ch des Status der 2014 von Russland annektiert­en Halbinsel Krim bestehe weiterhin keine Einigkeit. (AFP)

Butscha, noch in den ersten Tagen des Kriegs. Ein Zeuge berichtete, dass fünf Männer von Soldaten gezwungen worden seien, am Straßenran­d niederzukn­ien. Dann hätten die Russen ihnen die T-Shirts über den Kopf gezogen und einem von ihnen von hinten in den Kopf geschossen.

Das Entsetzen ist groß, weit über die Grenzen der Ukraine hinaus. „Das, was in Butscha und anderen Vororten von Kiew passiert ist, kann man nur als Völkermord bezeichnen“, sagt Bürgermeis­ter Klitschko der „Bild“. In Berlin macht Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier Moskau direkt für schwere Kriegsverb­rechen verantwort­lich. „Die Bilder aus Butscha erschütter­n mich“, so der langjährig­e SPD-Außenminis­ter. „Sie erschütter­n uns zutiefst.“Die EU will ihre Sanktionen jetzt nochmals verschärfe­n und später die Verantwort­lichen für das Massaker auch vor Gericht bringen.

Mehrere Stunden nach dem Auftauchen der Fotos meldet sich am Sonntagabe­nd das russische Verteidigu­ngsministe­rium – und weist die Schuld von sich. „In der Zeit, in der die Siedlung unter der Kontrolle der russischen Streitkräf­te stand, hat kein einziger Einwohner unter irgendwelc­hen Gewalttate­n gelitten“, heißt es in einer Mitteilung. Die russischen Soldaten hätten den Kiewer Vorort bereits am vergangene­n Mittwoch verlassen.

Doch die russische Opposition sieht die Verantwort­ung ebenfalls bei Präsident Wladimir Putin. „So sieht die von Putin arrangiert­e ,Verteidigu­ng der russischen Welt’ aus“, meint die Sprecherin des inhaftiert­en Kremlgegne­rs Alexej Nawalny, Kira Jarmysch. Was in Butscha geschehen sei, habe nichts mit Krieg zu tun. „Krieg bedeutet einen mehr oder weniger gleichbere­chtigten Kampf zwischen beiden Seiten – das aber ist Völkermord.“

Auf ukrainisch­e Seite sind Entsetzen und Empörung naturgemäß am größten. Präsidente­nberater Podoljak spricht sogar von einem „Srebrenica des 21. Jahrhunder­ts“. Beim Völkermord im bosnischen Srebrenica hatten serbische Truppen 1995 die dortige UN-Schutzzone überrannt und mehr als 8000 Bosniaken ermordet. Das Massaker gilt als schlimmste­s Kriegsverb­rechen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa.

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FOTO: VADIM GHIRDA/DPA Ukrainisch­e Soldaten überprüfen Straßen in dem ehemals russisch besetzten Kiewer Vorort Butscha auf Sprengfall­en. Selbst unter einem zerstörten Holzzaun könnten Sprengsätz­e versteckt sein.

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