Macrons Countdown
Der französische Präsident versucht bei einer einzigen Wahlkampfkundgebung seinen Abwärtstrend zu stoppen
- Die Zahlen flimmern in blau, weiß und rot über das Leuchtband, das die größte Veranstaltungshalle Europas umspannt. 15, 14, 13, skandieren rund 30 000 Menschen in der Paris La Défense Arena im Vorort Nanterre. Bei null beginnt ein Feuerwerk aus mehreren Fontänen zu sprühen und Emmanuel Macron betritt den Saal. Es ist der Moment, auf den seine Anhängerinnen und Anhänger lange gewartet haben. Während alle anderen Kandidaten bereits große Kundgebungen abhielten, zeigte sich der Präsident kaum in der Öffentlichkeit. Eine Pressekonferenz zur Vorstellung seines Programms und drei kleine Auftritte – das war es.
Doch eine Woche vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl steigt Macron endlich in den Ring. Der 44-Jährige, der in den vergangenen Wochen mit Pandemie und Ukraine-Krieg alle Hände voll zu tun hatte, beginnt nun ernsthaft Wahlkampf zu machen. Und er geht in seiner zweistündigen Rede in die Vollen. „Sie nennen sich Patrioten und lassen ihre Partei aus dem Ausland finanzieren“, kritisiert er seine Rivalin Marine Le Pen. „Sie wollen morgens aus dem Euro aussteigen und abends nach Europa zurückkehren“, kommentiert er den Schwenk der Kandidatin in der Europapolitik.
Auch dem einwanderungsfeindlichen Programm der Rechtspopulistin, die er nie beim Namen nennt, verpasst er einen Seitenhieb. „Frankreich ist ein Block, wo man nicht sortiert, nicht auswählt, sondern wo man alle liebt“, sagt er an die Adresse Le Pens, die eine „nationale Priorität“bei der Sozialhilfe und der Wohnungsvergabe
einführen will. Den Umfragen zufolge wird es in der Stichwahl am 24. April zu einer Neuauflage des Duells zwischen dem Präsidenten und der Rechtspopulistin kommen. Der Abstand zwischen den beiden Rivalen ist in den vergangenen Tagen zusammengeschmolzen: Macron werden in der ersten Runde am kommenden Sonntag 27 Prozent vorausgesagt, seiner Konkurrentin 22 Prozent. Dahinter folgen der Linksaußen Jean-Luc Melenchon
mit 15 Prozent, Zemmour mit 11,5 und die Konservative Valérie Pécresse mit neun Prozent. In der zweiten Runde liegt Macron mit 53 zu 47 Prozent nur noch knapp vor Le Pen. Der deutliche Sieg, den der Präsident noch 2017 einfuhr, ist dieses Jahr nicht mehr zu schaffen. Experten wollen sogar nicht ausschließen, dass Le Pen gewinnen könnte.
Die Kandidatin profitiert von dem gemäßigten Image, das sie sich in den vergangenen Jahren gab. Sogar ihre Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, mit dem sie 2017 stolz für ein Foto posierte, schadete ihr nicht. „Man muss Angst haben, denn die Gefahr des Rechtsextremismus ist nicht gebannt“, warnt Nelly, eine 25-jährige Studentin, die mit ihrer Freundin in die La Défense Arena gekommen ist.
Macron mahnt seine Truppen schon lange, den Sieg nicht als gegeben hinzunehmen. „Die extremistische Gefahr ist in den vergangenen Jahren noch größer geworden, denn der Hass wurde in der öffentlichen Debatte banalisiert“, sagt er in Nanterre. Antisemiten und Rassisten seien inzwischen regelmäßig im Fernsehen zu sehen. „Wir haben uns an ihre schmutzigen Behauptungen und ihre übelerregenden Theorien gewöhnt.“
Gemeint ist wohl vor allem der frühere Fernsehmoderator Zemmour, der mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilt wurde. Er könnte sich nach der ersten Runde mit Le Pen zusammenschließen. Doch auch konservative Wähler könnten in Scharen zu der 53-Jährigen überlaufen. „2022 ist vielleicht der umgekehrte Spiegel des Jahres 2017. Vor fünf Jahren hat Macron von der Anti-Le-Pen-Front profitiert. Und jetzt kann Le Pen von der Anti-Macron-Front profitieren“, sagt der Politologe Bruno Cautrès in der Zeitung „Le Parisien“.
Macron hatte 2017 das traditionelle Parteiensystem aus Konservativen und Sozialisten gesprengt. Mit seinem Anspruch, weder rechts noch links zu sein, zog er Anhängerinnen und Anhänger beider Lager an. Doch die Überläufer der Sozialisten
fühlten sich durch den konservativen Kurs betrogen, den der Präsident mit seiner Reformpolitik einschlug. Viele von ihnen drohen damit, diesmal nicht zur Wahl zu gehen – die Wahlenthaltung könnte mit mehr als 30 Prozent so hoch liegen wie noch nie. Um die Wahl zu gewinnen, müsse Macron nun die enttäuschte linke Wählerschaft zurückholen, fordert Cautrès.
Es scheint so, als habe der Präsident die Botschaft verstanden. In Nanterre erinnert er an die sozialen Errungenschaften der vergangenen fünf Jahre: die künstliche Befruchtung für homosexuelle Paare, die Abschaffung der Wohnungssteuer und die Ein-Euro-Mahlzeiten für Studentinnen und Studenten. „Das war unser Projekt und wir haben es umgesetzt.“
In den nächsten fünf Jahren will er die Kaufkraft seiner Landsleute mit einer Prämie über jährlich 6000 Euro sowie einer Anhebung der Mindestrente und des Mindestlohns stärken. „Man muss die guten Ideen von allen Seiten aufgreifen“, sagt Christian Guilbert, ein 69-jähriger Rentner, der aus dem nordfranzösischen Lille in die La Défense Arena gekommen ist. Früher wählte er die Sozialisten, doch inzwischen ist die Partei in die Bedeutungslosigkeit abgestürzt: Die sozialistische Kandidatin, die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, liegt nur bei zwei Prozent. „Die Parteien bedeuten doch ohnehin nichts mehr“, meint Guilbert. Der Präsident sieht das genauso. Er ruft Wählerinnen und Wähler von Konservativen, Sozialdemokraten und Grünen auf, sich ihm anzuschließen. „Denn wir hatten von Anfang an nur eine Partei, nämlich unser Land.“