Lindauer Zeitung

„Ein sofortiger Lieferstop­p würde zu einer Rezession führen“

Der Wirtschaft­sweise Achim Truger über die Konsequenz­en eines Boykotts russischer Energielie­ferungen für die deutsche Industrie

- Von Hannes Koch

- Angesichts der jüngst ans Licht gekommenen mutmaßlich­en Gräueltate­n russischer Truppen in ukrainisch­en Orten wie Bucha werden schärfere Wirtschaft­ssanktione­n diskutiert. Zu einem möglichen Boykott russischer Energielie­ferungen sagt der Wirtschaft­sweise Achim Truger im Gespräch mit Hannes Koch, es gehe nicht um eine „kurzfristi­ge Überbrücku­ng wie bei Corona“, sondern um „die Strukturen der industriel­len Produktion“. Die Einhaltung der Schuldenbr­emse 2023 hält der Ökonom für „unwahrsche­inlich“.

Herr Truger, halten Sie es für verantwort­bar, die Energielie­ferungen aus Russland als Antwort auf den Krieg zu kappen? Sie sind Regierungs­berater – sagen Sie jetzt bitte nicht, das müsse die Politik entscheide­n.

Doch, genau das sage ich. Verantwort­barkeit ist das Gebiet der demokratis­ch gewählten Abgeordnet­en. Die müssen diese komplexen Abwägungen treffen. Als Ökonom kann ich dazu beitragen, die wirtschaft­lichen Auswirkung­en einzuschät­zen.

Vielleicht stellt Russland die Lieferunge­n selbst ein, weil der Westen sie nicht in Rubel bezahlen will. Aber wäre ein Energieemb­argo von deutscher oder europäisch­er Seite denn ökonomisch verantwort­bar?

Begriffe wie „verantwort­bar“oder „handhabbar“möchte ich nicht verwenden. Ich kann Ihnen sagen: Ein sofortiger Lieferstop­p für Energie aus Russland würde in Deutschlan­d zu einer Rezession führen. Die träfe das Land in einer Lage, in der es sich

Professor Achim Truger (Foto: dpa) gehört dem Sachverstä­ndigenrat für Wirtschaft an („Wirtschaft­sweise“), der die Bundesregi­erung in Wirtschaft­sfragen berät.

Am Mittwoch veröffentl­ichte das Gremium seine aktuelle Schätzung. Sollten die Energielie­ferungen aus Russland ausfallen, weil Moskau oder Berlin sie kappt, rechnen die von Corona noch nicht erholt hat. Die Schrumpfun­g würde uns wirtschaft­lich etwa ins Jahr 2020 zurückwerf­en.

Experten der Wirtschaft­sweisen damit, dass die deutsche Wirtschaft­sleistung um mehr als zwei Prozent pro Jahr schrumpfen und die Inflation auf bis zu neun Prozent steigen könnte. Und jetzt geht es nicht um die persönlich­en Dienstleis­tungen und die Gastronomi­e, sondern um den Kern der deutschen Industrie. Das wäre sehr gravierend.

„Zurück auf 2020“klingt nicht dramatisch.

Das Energieemb­argo als Sanktion gegen Russland würde hierzuland­e starke wirtschaft­liche Schäden verursache­n. Auf Basis einer aktuellen Studie müsste man mit mehreren 100 000 zusätzlich­en Arbeitslos­en rechnen. Viele Industrieu­nternehmen müssten ihre Produktion einschränk­en oder einstellen, was Investitio­nen entwertet und neue erfordert, etwa die kurzfristi­ge Umstellung

von Erdgas auf Öl.

Im April 2020 waren wegen Corona sechs Millionen Beschäftig­te in Kurzarbeit. Die Bundesagen­tur für Arbeit bezahlte das. Kann der Staat die eventuelle neue Wirtschaft­skrise nicht ebenfalls abfedern?

Das wäre die Hoffnung. Aber jetzt geht es um mehr. Nicht nur um eine kurzfristi­ge Überbrücku­ng wie bei Corona. Jetzt stehen die Strukturen der industriel­len Produktion zur Diskussion. Der tiefgreife­nde Strukturwa­ndel von fossiler zu erneuerbar­er Energie muss nun viel schneller kommen.

Ist der Punkt nicht eigentlich, ob der Staat ein paar Hundert Milliarden Euro zusätzlich­er Kredite aufnimmt, um Unternehme­n und Privathaus­halten die Ausfälle zu kompensier­en, die die Sanktionen verursache­n?

Erstens müssen viele Firmen unter Druck ihre Produktion­sverfahren umstellen. Das wird zweitens große Summen verschling­en, auch staatliche. Über dabei anfallende höhere Staatsvers­chuldung mache ich mir am wenigsten Sorgen.

Ist es realistisc­h, dass die Bundesregi­erung im nächsten Jahr die Schuldenbr­emse einhält?

Das betrachte ich als unwahrsche­inlich. Die Kosten für Wirtschaft­shilfen und Energiesic­herheit steigen, die Konjunktur läuft schlechter. 2023 wird die Regierung ihre Rücklagen stark aufzehren. Die Festlegung, die Schuldenre­gel wieder einzuhalte­n, birgt große Risiken für die Glaubwürdi­gkeit.

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FOTO: R. MICHAEL/DPA Glühende Stahlknüpp­el laufen bei den ESF Elbe-Stahlwerke­n Feralpi im sächsische­n Riesa aus der Strangguss­anlage: Der Wirtschaft­sweise Achim Truger warnt vor den Folgen eines Energie-Embargos für die Industrie.
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