Wenn Essen gegen innere Leere und Einsamkeit hilft
Marion kommt mit Krämpfen in die Klinik – Sie ist so dick, dass sie nicht gemerkt hat, das sie schwanger war
(dogs) - Seine Klienten sind Menschen wie Du und Ich. Einige brauchen ihn als Psychiater, manche als Psychotherapeuten und wieder andere als Coach. Dr. Christian Peter Dogs lädt die Leser der Lindauer Zeitung dazu ein, ihm bei der Arbeit über die Schulter zu schauen und verspricht: „Bei vielen Fällen werden Sie manches von sich selbst wiedererkennen.“Dieses Mal geht es um den Unsinn von Diäten – und eine Frau, die nicht gemerkt hat, das sie schwanger war, weil sie so übergewichtig war.
Die Behandlung des Übergewichts ist immer noch ein großes Geschäft. Auch als Fachmann hat man die Übersicht über die Anzahl der Diäten verloren. Ernährungsratgeber finden sich sehr schnell auf den Bestsellerlisten und haben doch alle den gleichen, falschen Ansatz, weil sie sich darauf konzentrieren, was gegessen wird.
Gerade aber für übergewichtige Patienten ist die entscheidende Frage, warum sie soviel essen, wie sie essen und mit wem. In der Regel ist nicht die Nahrungszusammensetzung gestört, sondern die Essmenge und das Essverhalten.
Marion war eine lebhafte, auf den ersten Blick sehr lustige und unterhaltsame Frau, als ich sie 2015 bei uns in der Klinik kennenlernte. Sie tänzelte geradezu durch die Klinikhalle auf mich zu und hatte eine sehr warmherzige, freundliche und lebensbejahende Ausstrahlung. Einfach ein sehr einnehmendes Wesen mit einer hohen Präsenz. Sie war mir sofort sympathisch.
Sie wog zu diesem Zeitpunkt 105 Kilogramm bei einer Körpergröße von 168 Zentimetern. Definitionsgemäß ist das eine Fettsucht. Marion war damals 42 Jahre alt und hatte schon unzählige Diäten und Ernährungskliniken hinter sich. Ihre Vorgeschichte ähnelte damit der vieler Patienten, die sich – wie fast alle – immer darauf konzentrierten, was sie auf dem Teller haben.
Allerdings hatte sie etwa zehn Jahre zuvor ein einschneidendes Erlebnis im Krankenhaus durchgemacht.
Sie war nachts mit einem „akuten Abdomen“mit starken krampfartigen Bauchschmerzen und hart gespannter Bauchdecke notfallmäßig eingeliefert worden. Hinter dieser Symptomatik verbargen sich eine nicht erkannte Schwangerschaft und einsetzende Wehen, die schließlich zur Geburt eines gesunden Jungen führten.
So unwahrscheinlich es klingen mag, aber auch Marion hatte während der letzten Monate nicht realisiert, dass sie schwanger sein könnte, weil sie so übergewichtig war. Seitdem versuchte sie auf allen möglichen Wegen Gewicht zu verlieren, weil sie dieses Erlebnis regelrecht traumatisiert hatte. Sie hasste sich, weil sie sich so fett fand und schämte sich. Sie versteckte sich unter weiten
Kleidern und überspielte ihre Verzweiflung mit einer extrovertierten Fassade. Dahinter war sie sehr einsam, unsicher und sehr frustriert über ihre erfolglosen Abnehmversuche. Damit saß sie schon in der ersten Falle. Zentrales Thema bei allen Essgestörten ist die Selbstakzeptanz. Jeder Übergewichtige besitzt eine Vorstellung davon, wie viel er wiegen müsste, um sich wohlzufühlen und akzeptiert zu werden. Entscheidender Schritt in der Behandlung ist aber, dass der Patient lernt, sich zu akzeptieren, wie er jetzt ist und nicht erst, wenn er sein Wunschgewicht erreicht hat. Sonst ist er ständig frustriert und wird als Frustesser niemals abnehmen.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum man in unserer Gesellschaft nur dann ein wertvoller Mensch sein kann, wenn man Normal- oder Idealgewicht hat. Mit unseren Normen zerstören wir unsere Fähigkeit, zufrieden mit uns selbst zu sein.
Marion setzte ihren Weg in eine andere Selbstwahrnehmung extrem um, indem Sie sich nicht mehr versteckte, sondern in der Klinik offen zu ihren „Pfunden“stand. Sie wollte sogar provozieren, fuhr nach Bregenz und kaufte sich erotische Kleidung und kam damit in unsere morgendliche Einstimmungsveranstaltung. Dabei erlebte sie dann, dass man sie nicht auslachte. Viele haben sie dafür bewundert, und sie wurde beklatscht. Natürlich ist das eine künstliche Atmosphäre und wäre in der Gesellschaft nicht umsetzbar. Aber im Rahmen der Therapie war es der erste wichtige Schritt zu einem neuen Selbstvertrauen.
Dann konzentrierten wir uns auf das „Warum sie soviel isst“. Es wurde schnell deutlich, dass Marion damit ihre innere Leere und Langeweile füllte. Sie war ein klassischer Einsamkeitsesser. Außerdem neigte sie dazu, Ärger und Frust in sich hineinzufressen.
In der Behandlung lernte sie diesen Ärger nach außen zu bringen. Die Einsamkeit begleitet sie immer noch, obwohl sie inzwischen eine Partnerschaft hat. Sie ist zentrales Thema der ambulanten Behandlung, die sie in monatlichen Abständen macht. Die Langeweile erlebt sie nicht mehr als Bedrohung, die man zwanghaft auffüllen muss, sondern lernt, sie zunehmend als Ressource zu verstehen. Es ist die Reizarmut, die sie braucht, weil sie als IT-Spezialistin oft völlig reizüberflutet wird.
Ach ja, abgenommen hat sie auch. Anfangs ein Kilo im Monat und dann ein halbes Kilo. Sie isst langsam, um zu spüren, wann sie satt ist, und lässt dann liegen, was sie sonst noch gegessen hat. Sie hatte den Leitsatz ihrer Eltern: „Der Teller muss leergegessen werden“sehr stark internalisiert. Das Essen hat seine kompensatorische Funktion verloren.
Dr. Christian Peter Dogs ist Psychiater und ärztlicher Psychotherapeut, war 30 Jahre Chefarzt verschiedener psychosomatischer Fachkliniken (unter anderem der Panorama Fachklinik in Scheidegg), Coach für Unternehmer und Manager der ersten Führungsebene. Das Buch „Gefühle sind keine Krankheit: Warum wir sie brauchen und wie sie uns zufrieden machen“, das er zusammen mit der Stern-Redakteurin Nina Poelchau geschrieben hat, wurde zum Spiegelbestseller. Außerdem war er Kolumnist der Wirtschaftswoche und des Stern. Ab sofort hat er auch in der LZ einen festen Platz. Online gibt es alle Teile der Kolumne unter:
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