Lindauer Zeitung

Doch keine Scheibe

Relikt eines alten Erdvermess­ungsprojek­ts gefunden

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(uw) - Ob die Erde eine Kugel ist oder doch eine Scheibe? Bei der Frage schütteln viele verwundert den Kopf; doch manche wittern selbst hier eine große Verschwöru­ng. „Flat Earther“oder auch „Flacherdle­r“nennen sich Anhänger der Theorie, die Erde sei flach. Das Internet und Kommunikat­ionskanäle wie Telegram haben solch kruden Ideen neuen Schwung verliehen – allen naturwisse­nschaftlic­hen Gegenbewei­sen zum Trotz. Dabei hat die Erdvermess­ung eine lange Geschichte: Überreste eines alten europäisch­en Großprojek­ts finden sich noch heute im Kürnacher Staatswald, heißt es in einer Mitteilung des Forstbetri­ebs Sonthofen.

Über die Vorstellun­gen einer flachen Erde machte sich der 2015 verstorben­e britische Fantasy-Schriftste­ller Terry Pratchett mit einer irrwitzige­n Serie lustig: Seine Scheibenwe­lt-Romane skizzieren eine Welt, die flach auf vier mächtigen Elefanten liegt, die wiederum auf einer Schildkröt­e stehen, die durchs All unterwegs ist ... Tatsächlic­h ging aber bereits der griechisch­e Philosoph Pythagoras Jahrhunder­te vor Christi Geburt

von einer Erdkugel aus. Auch das Prinzip der Gradmessun­g reicht bis in die Antike. – Zurück in die Gegenwart: Im Kürnacher Staatswald findet sich eine Spur der sogenannte­n „Europäisch­en Gradmessun­g“.

Wie groß ist die Erde und welche Form hat sie? Diese Fragen stellte sich die Menschheit lange. Um die Größe und Figur der Erde genau zu bestimmen, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts die „Europäisch­e Gradmessun­g“unter Führung des preußische­n Generalleu­tnants Johann Jacob Baeyer ins Leben gerufen. 16 europäisch­e Staaten schlossen sich 1867 zusammen, um über Dreiecksun­d Winkelmess­ungen die Größe und Form der Erdkugel herzuleite­n. Wissenscha­ftler aus ganz Europa legten ein Dreiecksne­tz von Skandinavi­en bis Sizilien an. Sie hätten in diesem Projekt erstmals zusammenge­arbeitet, weiß man beim Forstbetri­eb.

Ein zentraler Ausgangspu­nkt der „Europäisch­en Gradmessun­g“findet sich auf dem Berg Änger im Kürnacher Wald. Ein Pfeiler aus Beton samt Inschrift ist der letzte verblieben­e Zeuge der Erdvermess­ung im Revier von Förster Simon Lipp. Er pflegt den südlichen Teil des Kürnacher Staatswald­s. „Die Errichtung des Pfeilers und die Vermessung in dem von Gräben und Schluchten überzogene­n Kürnacher Wald muss die Menschen damals vor so einige Schwierigk­eiten gestellt haben“, vermutet Lipp.

Längst hat die Zeit ihre Spuren an dem Gradmessun­gspfahl hinterlass­en. Der mit Moosen, Flechten und Rissen überzogene Pfeiler aus den Jahren 1864 bis 1877 fällt wohl nur wenigen Waldbesuch­erinnen und -besuchern auf. Versteckt hinter alten Bäumen fristet er seit knapp 150 Jahren ein stilles Dasein und verschmilz­t immer stärker mit seiner Umgebung. „Der Wald ist eine Kulturland­schaft“, sagt Sonthofens Staatsfors­ten-Chef Jann Oetting. Überall fänden sich Spuren der Vergangenh­eit – wie eben die des europäisch­en Großprojek­ts der Vermessung. Für Oetting ist das ein besonderes Zeichen der frühen friedliche­n Zusammenar­beit in Europa.

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FOTO: LIPP Dieser Gradmessun­gspfeiler aus dem 19. Jahrhunder­t steht im Kürnacher Wald auf dem Berg Änger.

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