Sinneswandel im Ethikrat überrascht Kritiker
Die Sachverständigen rechnen mit der Corona-Politik ab, die sie selbst jahrelang unterstützt haben
- Der Ethikrat übt plötzlich scharfe Kritik an der Lockdown-Politik in der Corona-Pandemie: Ungerecht, in Teilen nicht ausgewogen und ungenügend begründet seien einzelne Maßnahmen gewesen. Ein überraschender Sinneswandel.
Es sollte eine Handlungsempfehlung für den zukünftigen Umgang mit Pandemien werden. Im Ergebnis geriet die ausführliche Stellungnahme des Deutschen Ethikrates unter Vorsitz von Alena Buyx allerdings auch zu einer in Teilen fundamentalen Kritik an der Corona-Strategie der Bundesregierung. Das Gremium arbeitet sich dabei insbesondere an einer Verengung des Begriffs der „Vulnerabilität” ab.
„Maßnahmen gegen eine Pandemie müssen demokratisch legitimiert, ethisch gut begründet und zugleich gesellschaftlich akzeptabel sein“, bleibt die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Alena Buyx in der Stellungnahme zunächst noch recht allgemein. Das gelte zumal bei der Frage, wie weit individuelle Freiheitsrechte zugunsten des Gesundheitsschutzes zurücktreten müssten. Der Extremfall davon sei der Lockdown des privaten und öffentlichen Lebens. Der Ethikrat gibt mit seiner Stellungnahme Empfehlungen, „wie das zukünftig besser gelingen kann”.
Das Gremium entwickelt in dem 160 Seiten starken Papier mit dem Titel: „Vulnerabilität und Resilienz in der Krise – Ethische Kriterien für Entscheidungen in der Pandemie“ein nach eigenen Worten „differenziertes Verständnis von Vulnerabilität“. Dieses anerkenne, dass Verwundbarkeit und Verletzlichkeit zur Grundverfassung der menschlichen Existenz schlechthin gehörten. Eine besondere Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit könne demnach nicht auf rein krankheitsbedingte Vulnerabilität bezogen werden – aber genau das wurde in der CoronaPolitik gemacht.
Neben der physischen Verletzbarkeit spiele die soziale und psychische eine ebenso große Rolle. Vor diesem Hintergrund seien freiheitseinschränkende Maßnahmen für alle
Bevölkerungsgruppen abzuwägen. „Insofern ist es abwegig oder zumindest missverständlich, allgemein von „vulnerablen Personen(gruppen)“zu sprechen, die etwa in der Covid-19 Pandemie eines besonderen Schutzes bedürfen.“
Dabei weisen die Verfasser auf die hohen Belastungen für Kinder und Jugendliche hin, die „erheblichen Einschränkungen“ausgesetzt waren und teilweise noch sind, obwohl ihr Risiko, ernsthaft zu erkranken, vergleichsweise gering ist. Neben den starken Einschränkungen für das soziale Leben und die Bildungsentwicklung von Kindern und Jugendlichen kritisieren die Experten auch das einsame Sterben von alten und kranken Menschen infolge der Maßnahmen.
In der streckenweise vernichtenden Kritik an der Pandemiebekämpfung
durch die Politik lässt der Ethikrat indessen die eigene Rolle weitgehend aus. Das Gremium beschränkt sich auf den Hinweis: „In einer Krise von weltgeschichtlichem Ausmaß sind Fehler und Fehlentscheidungen unvermeidlich.“
Wobei der Ethikrat unerwähnt lässt, dass es schon früh im Pandemieverlauf mahnende Stimmen aus der Wissenschaft gab, die in den Lockdowns hohe Risiken sahen und deren Nutzen hinterfragten.
Gehört wurden sie nicht, wie etwa die von Christoph Lütge, Professor für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München. Zu der jetzt vorgelegten Analyse twittert Lütge: „Jetzt plötzlich auf Schäden durch Corona-Maßnahmen und auf gesellschaftliche Spaltung hinzuweisen, nachdem man zwei Jahre genau diese befördert hat, ist völlig unglaubwürdig. Genauso wie die Aussage, man habe es damals nicht wissen können.“Andere hätten dies gewusst und auch gesagt.
Lütge hatte sich von Beginn an kritisch zu Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung geäußert und Lockdowns als ein weitgehend wirkungsloses Instrument bezeichnet. Kurze Zeit später wurde Lütge aus dem Bayerischen Ethikrat abberufen. Lütge schade dem Ansehen des Ethikrats, hieß es damals zur Begründung.
Auch der renommierte Ökonom Professor Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, hat bereits vor mehr als einem Jahr mehrfach vor den Folgen der Lockdowns für die Bildungsgerechtigkeit gewarnt. Wochenlanger Distanzunterricht verschärfe die sozialen Gegensätze. Seine Kritik setzte an der fehlenden Datenbasis für eine gezielte Pandemiebekämpfung an. Auch nach Jahren der Pandemie fehle es an empirischen Befunden über das Infektionsgeschehen. Die unklare Datenlage rechtfertige keine Lockdowns, deren Wirksamkeit sei nicht erwiesen.
Lütge verweist im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“auf 5000 Likes als Reaktion auf seinen Tweet. „Ich bin nicht der Einzige, der sich über die späte Einsicht des Ethikrats wundert.“
Unter anderem hatte sich auch der Kölner Medizin-Professor Matthias Schrappe bereits im November 2020 kritisch zu den Lockdowns geäußert. Auch er bemängelte, zusammen mit mehreren Vertretern aus dem Gesundheitswesen, die löchrige Datenlage, auf die sich die Grundrechtseingriffe stützten.
Der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich mit den großen Fragen des Lebens. Mit seinen Stellungnahmen und Empfehlungen gibt er Orientierung für die Gesellschaft und die Politik. Die Mitglieder des Ethikrates werden vom Präsidenten des Deutschen Bundestags ernannt. Das unabhängige Sachverständigengremium hat sich am 11. April 2008 auf der Grundlage des Ethikrat-Gesetzes konstituiert und die Nachfolge des im Jahr 2001 von der Bundesregierung eingerichteten Nationalen Ethikrats angetreten. Das Gremium hat umfangreiche Stellungnahmen erarbeitet, unter anderem zu den Themen Gendiagnostik und Big Data.
Der Ethikrat besteht aus insgesamt 26 Mitgliedern, die naturwissenschaftliche, medizinische, theologische, philosophische, ethische, soziale, ökonomische und rechtliche Belange repräsentieren. Neben Wissenschaftlern gehören ihm auch Personen an, die in besonderer Weise mit ethischen Fragen vertraut sind. (sz)
Ethik-Professor Lütge hinterfragt unterdessen die Unabhängigkeit des Ethikrats. „Man hatte schon Mitte 2020 Daten, die zeigten, dass der erste Lockdown nicht die gewünschte Wirkung hatte“, sagt Lütge. Das habe auch der Vergleich mit anderen Ländern ergeben. Der Ethikrat, so Lütge, hätte es damals also schon wissen können.
Stattdessen habe das Gremium stets die von der Politik beschlossenen Maßnahmen unterstützt. Seine Aufgabe wäre es gewesen, so Lütges Auffassung, die politischen Entscheidungen auf ihre Wirkung hin zu hinterfragen und die gesellschaftlichen Schäden dem Nutzen gegenüber zu stellen. „Genau das, was der Ethikrat jetzt in seiner Analyse macht, hätte schon 2020 passieren müssen“, so die Kritik von Ethik-Professor Lütge.