Plötzlich zu siebt statt allein
Ein Lindauer nimmt Geflüchtete aus der Ukraine bei sich auf – Wie das Zusammenleben funktioniert
- Von einem Tag auf den anderen wohnt Christian Frey nicht mehr allein. Seit Anfang März teilt er sein Haus in Lindau mit sechs Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind: Maryna Mykhalkova mit ihren Kindern Kseniia und Oliksandr und Tamara Kuksenko mit ihren Kindern Hanna und Ivan. Damit alle am Esstisch Platz finden, hat sich Frey extra eine Holzbank zugelegt. Einzelne deutsche Wortfetzen fliegen durch den Raum, doch hauptsächlich verläuft das Gespräch auf Englisch.
Freys neue Mitbewohnerinnen und Mitbewohner kommen aus Dnipro, einer Millionenstadt im Zentrum der Ukraine. Maryna Mykhalkova hat dort eine Sprachschule mit 30 Angestellten, Tamara Kuksenko ist ihre Freundin und Kollegin. Sie kannten Frey vorher nicht. Durch Zufall sind sie bei dem 67-Jährigen gelandet und haben sein Leben auf den Kopf gestellt. Das Wohnzimmer ist jetzt ein Schlafzimmer, ebenso eines der Büros im ersten Stock. Kuksenko schläft mit ihren Kindern in einem Wohnmobil, das auf dem Hof steht.
„Wir teilen alles, das Bad, den Kochtopf, die Gabel“, sagt Frey. Und es geht nicht nur um Materielles, sondern auch um Emotionen. Der Krieg verfolgt die sechs Geflüchteten bis nach Lindau. „Fast jeden Tag fließen Tränen“, sagt Frey. Familie und Freunde sind noch in der Ukraine. „Wir informieren uns zwei- bis dreimal am Tag“, sagt Mykhalkova. Sie selbst habe alles zurückgelassen. „Wir haben eine Tasche gepackt und sind gegangen.“Die erste Zeit sei nicht einfach gewesen. „Aber die Menschen sind sehr freundlich und hilfsbereit.“
Frey bereut die Entscheidung, sein Haus zu öffnen, nicht – trotz organisatorischer Hürden, die er so nicht erwartet hätte. „Mein Leben wird um hundert Prozent reicher.“Er weiß zudem, was das Leben in einer Großfamilie bedeutet. Der 67-Jährige ist mit sieben Geschwistern aufgewachsen. Von all dem Guten, das ihm im Leben widerfahren ist, habe er etwas zurückgeben wollen. Von behördlicher Seite geht es Frey allerdings nicht immer schnell genug. Er wartete nicht, bis ihm das Landratsamt Flüchtlinge zuwies, sondern erfuhr über Kontakte von der kleinen Gruppe, die bei ihm Unterschlupf gefunden hat.
Als Frey die vergangenen drei Wochen seit Ankunft seiner neuen Mitbewohner schildert, wird eines deutlich: Organisationstalent ist für die private Aufnahme von Geflüchteten entscheidend. Das scheint der 67Jährige zu besitzen, der 25 Jahre lang ein Eventbüro hatte, als Masseur gearbeitet hat und inzwischen in Rente ist. „Christian macht alles für uns“, sagt Mykhalkova. Er sage ihnen, was sie wann zu tun haben. „Das erleichtert unser Leben.“
Frey kritisiert allerdings, wie aufwendig die Behördengänge sind. Die Registrierung der Flüchtlinge erfolgt beispielsweise in drei Schritten: Eine Erstanmeldung in Heimenkirch, eine Registrierung beim Ausländeramt im Landratsamt Lindau und eine Registrierung im Ankerzentrum in Augsburg. Der Grund: „In Deutschland
müssen Asylsuchende bundesweit einheitlich registriert werden“, schreibt Sibylle Ehreiser, Sprecherin des Landratsamts Lindau, auf Anfrage. Dafür gebe es spezielle Erfassungsterminals, die in der Regel in den Landkreisen nicht zur Verfügung stünden. „Asylsuchende, die hier im Landkreis ankommen, müssen daher zwingend in Augsburg erfasst werden“, heißt es weiter. Das sei aber auch noch zu einem späteren Zeitpunkt möglich. Von der Registrierung in Augsburg wisse er gar nichts, meint Frey dazu nur.
In solchen Ausnahmesituationen würde er sich pragmatischere Lösungen und eine zentrale Anlaufstelle wünschen. „Ich bin nur am Rennen.“Für die Erstanmeldung seien sie direkt am Ankunftstag nach Heimenkirch gefahren, aber wegen Überlastung weggeschickt worden. Daraufhin habe er dreimal beim Ausländeramt im Landratsamt angerufen, um einen Termin auszumachen und sei schließlich einfach so vorbeigefahren – mit Erfolg. Seit dem 14. März sind Mykhalkova und Kuksenko mit ihren kleinen Familien registriert, ohne die Erstanmeldung in Heimenkirch, berichtet Frey.
Einen Aspekt bemängelt er besonders: Bislang finanziere er alles aus eigener Tasche. Er fühle sich vom Staat hängen gelassen, obwohl er ihm Arbeit abnehme. Zwar hätten die Geflüchteten Sozialhilfe beantragt. Bisher
sei jedoch noch kein Geld da. Frey ärgert sich zudem, dass es die Sozialhilfe erst ab dem Datum der Registrierung beim Ausländeramt gibt. Sibylle Ehreiser präzisiert, dass die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ab dem Tag der Beantragung gewährt würden. Der Antrag könne auch vor der Registrierung gestellt werden. Sie schreibt aber auch: Eine finanzielle Unterstützung für die Helfer sei im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes leider nicht möglich.
Freys Engagement tun die von ihm beschriebenen Widrigkeiten aber keinen Abbruch. So kümmerte er sich schnell um Deutschunterricht für seine neuen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Eine Bekannte schaut regelmäßig vorbei und lernt mit ihnen – wenn das Wetter mitmacht, auf der überdachten Terrasse. Oliksandr (17) hat Frey einen Praktikumsplatz besorgt, Kseniia (19), die Deutsch spricht, einen Job an der Grundschule in Lindau-Hoyren. Sie soll dort ukrainische Kinder betreuen. „Ich bin ein bisschen aufgeregt“, meint sie dazu. Am Anfang ihrer Zeit in Lindau sei sie geschockt gewesen: „Ein neues Land, neue Leute, ich wollte nach Hause.“Dabei habe sie immer davon geträumt, in Deutschland zu leben. „Aber nicht unter diesen Umständen.“Inzwischen hat sie sich etwas eingelebt, knüpft erste Kontakte: zur Schule, aber auch zur luv-Band der Jungen Kirche Lindau, denn Kseniia singt.
Künstlerisch begabt ist auch Hanna, Kuksenkos Tochter. Stolz präsentiert Frey ein Landschaftsbild von ihr, das den Hochgrat zeigt. Die 19Jährige studiert Kunst in der Ukraine und kann online an den Kursen teilnehmen. Ihr Bruder Ivan besucht das Valentin-Heider-Gymnasium, auch das hat Frey organisiert. Die beiden Frauen geben weiterhin online Sprachkurse. Die Teilnehmenden seien inzwischen über den ganzen Globus verteilt, berichtet Mykhalkova. „Wir haben eigentlich alles, aber wir müssen hier Arbeit finden, um finanziell unabhängiger zu werden“, sagt die 43-Jährige.
Wie lange die Geflüchteten bleiben, ist ungewiss. Frey plant sogar bis ins kommende Jahr. Den Sommer über würde er das Wohnarrangement so beibehalten, wie es jetzt ist. Ab Mitte Oktober könnten Mykhalkova und Kuksenko mit ihren Kindern dann in seine beiden Ferienwohnungen ziehen, die für diese Saison bereits ausgebucht seien, erklärt er. Doch egal, wie lange sie bei ihm bleiben, scheint ihm schon jetzt eines gelungen zu sein: sechs Geflüchteten ein Heim zu bieten, in dem sie sich ganz selbstverständlich bewegen. Sie haben eigene Räder, kommen und gehen, wann und wie sie wollen. Freys einzige Bedingung: Die Haustür leise hinter sich zumachen.