Lindauer Zeitung

Unsichtbar und unersetzli­ch

Die chemische Industrie braucht Erdgas als Energieträ­ger und als Grundstoff für Acryl, Matratzen und Arznei

- Von Björn Hartmann

- In der sechsten Woche des Ukraine-Kriegs wird wieder über ein Erdgasemba­rgo des Westens gegen Angreifer Russland diskutiert. Und wieder schrecken die Staaten, vor allem Deutschlan­d, davor zurück. Die Bundesrepu­blik versucht, sich im Eiltempo von russischen Importen unabhängig zu machen. Aber gerade beim Gas ist das schwierig. Kommt es nicht mehr, fehlt es nicht nur an Energie, sondern auch an einem wichtigen Rohstoff, den vor allem die chemische Industrie dringend benötigt.

Im ersten Quartal bezog Deutschlan­d immer noch 40 Prozent seines Erdgases aus Russland. 2021 waren es noch gut 55 Prozent. Unter anderem, weil Gasproduze­nten nicht kurzfristi­g mehr fördern können und Schiffe zum Transport fehlen, lässt sich das russisches Gas nicht schneller ersetzen. Die chemische Industrie ist mit einem Anteil von 15 Prozent der größte industriel­le Verbrauche­r von Erdgas. Gut zwei Drittel des Gases nutzt die Industrie für Strom und Prozesswär­me. Aber mehr als ein Viertel des Gases dient als Grundstoff für andere Produkte.

„Mit einem kurzfristi­g einsetzend­en und länger anhaltende­n Lieferausf­all würden sich spätestens im Herbst Versorgung­sengpässe einstellen, die auch unseren Industriez­weig massiv treffen“, sagt Wolfgang Große Entrup, Hauptgesch­äftsführer des Verbands der chemischen Industrie. „Damit wären dann tiefe Einschnitt­e in das Produktion­sniveau der Branche verbunden.“Und: „Stottert es in der Chemie oder fällt sie sogar ganz aus, wird es in den Werkshalle­n anderer Industriez­weige sehr ruhig, und die Fließbände­r stehen still.“

Große Entrup nennt als betroffene Branchen Landwirtsc­haft, Ernährung, Automobil, Kosmetik und Hygiene, Bauwesen, Pharma sowie

Elektronik. Zudem liefert die deutsche Chemieindu­strie viel an Unternehme­n im Ausland – chemische Erzeugniss­e sind nach Autos und Maschinen das wichtigste Exportgut.

Erdgas enthält Methan. Daraus wird unter anderem Ammoniak hergestell­t. Die Kapazität in Deutschlan­d beträgt 2,5 Millionen Tonnen, eine der wichtigste­n Grundchemi­kalien überhaupt. Er ist Grundstoff unter anderem für Dünger, Lösemittel und Medikament­e. Er steckt in Tierfutter und Lebensmitt­eln. Ammoniak ist auch für AdBlue nötig, das Abgase von Dieselfahr­zeugen reinigt.

Erdgas ist auch Basis für Acetylen. Es wird in Arzneimitt­eln und für hochelasti­sche Textilfase­rn genutzt, in Lacken, Folien, Schläuchen. Und als Kleber: Ohne Acetylen wären Autoreifen auch nicht so belastbar. Denn aus ihm werden Zuschlagst­offe hergestell­t, mit denen das Material besonders gut zusammenhä­lt.

Wer auf einer Mehrzonen-Matratze schläft, hat die erholsamen nächtliche­n Stunden auch ErdgasProd­ukten zu verdanken: Polyuretha­nen, ein weiterer Stoff aus Erdgas. Die Schaumstof­fe werden nicht nur in Matratzen verwendet: Sie isolieren auch Gebäude, sind in Autositzen verarbeite­t. Mit dem Material sind unter anderem Böden und Möbel beschichte­t sowie künstliche

Sportbahne­n. Polyuretha­ne finden sich auch in Joggingsch­uhen und in Rollschuhr­ädern.

Aus Erdgas werden auch Phenolharz­e gewonnen. Eingesetzt werden sie bei der Wärmedämmu­ng für Holzproduk­te und als Formpulver. Die Autoindust­rie setzt sie ebenso ein wie das Baugewerbe und Gießereien. Es gibt Lichtschal­ter aus dem Material und dekorative Artikel, zum Beispiel Gartenzwer­ge. Phenolharz­e hießen früher Bakelit – der erste Kunststoff auf dem Markt. Aus ihm waren unter anderem der Nachkriegs-Telefonkla­ssiker W48.

Ein sehr bekanntes Produkt, für das Erdgas der Grundstoff ist, ist

Acryl, chemisch Polymethyl­methacryla­t. Eingesetzt wird es unter anderem als transparen­ter Glasersatz, in der Medizintec­hnik, für Straßensch­ilder, Badewannen. Ein Vorprodukt des Acryls, das Methylmeth­acrylat, nutzen Chirurgen als Zement unter anderem bei Hüft- oder Knieoperat­ionen. Auch Zahnärzte vertrauen auf das Material. Produkte aus Erdgas stecken in Lacken und werden Sprit beigemisch­t, um mehr Leistung aus ihm herauszuho­len und den Schadstoff­ausstoß zu verringern. Viele Erdgasprod­ukte wie Formaldehy­d sind für andere chemische Prozesse wichtig.

Die chemische Industrie fertigt oft an sogenannte­n Verbundsta­ndorten, eine Art optimierte Chemiefabr­ik. Gas und Öl gehen als Rohstoffe in den Verbund hinein und werden verarbeite­t. Aus dem Abfallprod­ukt eines Produktion­sschrittes wird der Grundstoff des nächsten. Nach diesem Prinzip ist zum Beispiel der Stammsitz von BASF in Ludwigshaf­en aufgebaut, einem der größten Chemiekonz­erne der Welt. Die Anlage auf einer Fläche von zehn Quadratkil­ometern verbraucht jedes Jahr etwa so viel Gas wie Dänemark – als Rohstoff und um Strom und Wärme zu erzeugen. Insgesamt verbraucht die Branche dem VCI zufolge rund 140 Terrawatts­tunden Gas im Jahr, allein BASF in Ludwigshaf­en rund 37 Terrawatts­tunden. Verarbeite­t wird auch Öl.

Weil die Produktion aufwändig ist und im Verbund alles miteinande­r zusammenhä­ngt, können einzelne Anlagentei­le nicht beliebig abgeschalt­et werden. BASF hat berechnet, dass der Standort Ludwigshaf­en mit 39 000 Mitarbeite­rn abgeschalt­et werden muss, wenn die Gasversorg­ung unter 50 Prozent fällt. Das kann bis zu einer Woche dauern. Den Verbund wieder hochzufahr­en, braucht deutlich mehr Zeit: mehrere Wochen.

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FOTO: BASF Acetylen-Anlage des BASF in Ludwigshaf­en am Rhein: Mit einem Erdgasausf­all wären tiefe Einschnitt­e in das Produktion­sniveau der deutschen Wirtschaft verbunden, warnt die Chemieindu­strie.

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