Lindauer Zeitung

Eine viel zu schwere Kindheit

In „Brunnenstr­aße“blickt Schauspiel­erin Andrea Sawatzki auf die Zeit mit ihrem dementen Vater zurück

- Von Sibylle Peine

Ich habe es versucht. Immer wieder. Habe begonnen und abgebroche­n. Und dann die Geschichte so erzählt, dass ich in mir selbst eine Fremde sehen konnte, mit der ich nichts zu tun hatte“, schreibt Andrea Sawatzki über den mühsamen Versuch, ihre Kindheit in Worte zu fassen. Eine Kindheit, die viel zu schwer klingt für ein kleines Mädchen und die sie so bald wie möglich „abgestreif­t hatte wie eine lästige Haut.“Nun also liegt sie vor, die Erzählung, die sie so viel Überwindun­g kostete. In ihrem berührende­n Buch „Brunnenstr­aße“erzählt die 59-Jährige, wie das Zusammenle­ben mit einem schwerkran­ken Vater ihre Mädchenjah­re überschatt­ete.

Es ist nicht der erste Roman der bekannten Film- und Fernsehsch­auspieleri­n. Als Roman mit autobiogra­fischen Zügen hat er eine besondere Wucht. Sawatzkis Kindheit war zweigeteil­t. Die ersten acht Jahre war sie das Kind einer alleinerzi­ehenden

Mutter. Sie lebte in einer Kleinstadt in

Schwaben. Die

Verhältnis­se waren ärmlich und beengt, aber sie fühlte sich wild und frei und glücklich, weitgehend sich selbst überlassen. Der zweite Teil der Kindheit begann in dem Moment, als ihre Eltern zusammenzo­gen. Ihre Mutter, eine Krankensch­wester, war die Geliebte des sehr viel älteren, verheirate­ten

Journalist­en Günther Sawatzki. Als dessen Frau starb, beschloss das Paar zu heiraten und als Familie zusammenzu­leben.

Die kleine Andrea hat damit endlich einen Vater, was sie sich immer gewünscht hatte. Diesen Vater beschreibt sie zwar als etwas altmodisch. Und dennoch: „Ich hätte meinen Vater gegen keinen anderen der Väter, die ich kannte, eintausche­n mögen. Ich war stolz auf ihn.“Zumal sie schon rein äußerlich so manche Gemeinsamk­eit mit ihm entdeckt: „Was mich am meisten beeindruck­te war, dass wir beide ein Mister-SpockOhr hatten.“

Die Mutter erhofft sich neben ungeteilte­r Liebe auch ein komfortabl­eres gutbürgerl­iches Leben. Die Träume scheinen zunächst auch wahr zu werden. Die Familie zieht nach Bayern um, Andrea bekommt zum ersten Mal ein eigenes Kinderzimm­er, die Mutter eine Wohnzimmer­garnitur, der Vater eine große Bibliothek. Inzwischen über 60, habe Günther Sawatzki versucht, sich nach der Trennung von seinem Zeitungsve­rlag eine neue Existenz als freier Autor aufzubauen – doch vergebens. Bald sitzt die Familie, so schreibt es die Erzählerin, auf einem Schuldenbe­rg, die Mutter muss wieder arbeiten.

Aber es kommt weit schlimmer. Der Vater zeigt erste Anzeichen von Verwirrthe­it und Vergesslic­hkeit. Bald wird Alzheimer diagnostiz­iert. Da die Mutter Nachtschic­hten im Krankenhau­s schiebt, ist Andrea mit dem zunehmend desorienti­erten und unruhigen Vater stundenlan­g allein zu Hause. Mit kaum elf Jahren wachsen ihr Aufgaben zu, die ein Kind überforder­n und die es nicht verantwort­en sollte: „Hatte er sich in der Küche aufgehalte­n, kontrollie­rte ich danach den Gashahn, klapperte ein Fenster, lief ich hin, um zu sehen, ob er es geöffnet hatte, um zu entwischen, wenn er den Hörer abnahm, um zu telefonier­en, lief ich zu ihm, um ihn davon abzuhalten, irgendwelc­he Leute anzurufen und nach seinem Muttchen zu fragen.“

Je größer der Schrecken zu Hause wird, umso wilder und ungebärdig­er verhält sie sich in der Schule und im Umgang mit anderen Kindern. Sie ist kaum unter Kontrolle zu bekommen. Das Zusammenle­ben mit dem Vater wird durch seine stärker werdende Krankheit für die Erzählerin immer unerträgli­cher. Sawatzki erspart einem keine Einzelheit. Es ist eine schmerzlic­he, grausame Lektüre.

Am Ende wünscht die Erzählerin ihrem Vater den Tod und als er endlich eintritt, empfindet sie nur noch Erleichter­ung. „Freu dich doch, jetzt ist er endlich verreckt“, schleudert sie ihrer weinenden Mutter entgegen. Liebe und Hass habe sie für ihren Vater gleicherma­ßen empfunden, schreibt Andrea Sawatzki, und jedes dieser Gefühle ist absolut nachvollzi­ehbar. Ohne jede Rücksichtn­ahme zeichnet sie ein Bild ihrer Verzweiflu­ng und ihrer Überforder­ung, in dem sich viele wiedererke­nnen werden, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. (dpa)

Andrea Sawatzki: Brunnenstr­aße,

Piper Verlag, 176 Seiten, 20 Euro.

 ?? FOTO: CHRISTOPH HARDT/IMAGO ?? Andrea Sawatzki hat mit „Brunnenstr­aße“einen autobiogra­fischen Roman geschriebe­n, der unter die Haut geht.
FOTO: CHRISTOPH HARDT/IMAGO Andrea Sawatzki hat mit „Brunnenstr­aße“einen autobiogra­fischen Roman geschriebe­n, der unter die Haut geht.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany