Feuer frei auf des Kanzlers Limousine
Im Staatlichen Beschussamt Ulm zeigt sich, ob Olaf Scholz’ Dienstfahrzeug den Regierungschef vor Maschinengewehrfeuer, Granatangriffen, Minen oder Gasattacken schützt
Von Ludger Möllers
- Zehn Einschusslöcher in der Tür der schweren Limousine, davon neun Treffer im Blech und einer in der Scheibe. Manfred Tonnier schaut sich das Bauteil genau an, dreht es um und zeigt: „Keines der Projektile hätte den Fahrer getroffen, die Kugeln wären in der Panzerung hinter dem Blech oder in der Sicherheitsscheibe stecken geblieben.“Tonnier leitet das Staatliche Beschussamt in Ulm und besitzt die Lizenz zum Zerstören: „Jährlich setzen wir hier etwa vier Prototypen von Limousinen, die ihren Insassen besonderen Schutz bieten sollen, einem Kugelhagel aus“, sagt der 64-Jährige, „jüngst haben wir auf die neue Mercedes S 680 Guard 300 Schuss abgefeuert.“
Prominentester Nutzer einer Limousine dieses Typs (V 12-Motor, 612 PS, Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in 8,3 Sekunden, maximal 190 km/h) ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der vom Bundeskriminalamt in die höchste Sicherheitsstufe eingruppiert wird. Darum muss seine Dienstkarosse nicht nur Schüssen, sondern auch Attacken durch Granaten, Gas oder Minen standhalten. Der Preis für so viel Schutz ist happig: 457 000 Euro stellt Daimler dem Kanzleramt in Rechnung. Dass für Privatleute 19 Prozent Mehr- wertsteuer hinzu- kommen, dürfte der betuchten und gefährdeten Klientel egal sein.
Während Tonnier über die Arbeit berichtet, sind im Sekundentakt Schüsse zu hören: Vom Beschussamt im Ulmer Norden werden jährlich etwa eine Million Schuss Munition abgefeuert. Denn die Prüfung von zivil gepanzerten Fahrzeugen macht nur einen kleinen Teil des Aufgabenfeldes der 28 Mitarbeiter aus: „Jede einzelne Waffe in Deutschland wird durch eines der fünf Beschussämter geprüft“, umreißt der Leiter das Spektrum. Die Prüfungen von Jagdund Sportwaffen sowie Böllern finden überwiegend in den Herstellerbetrieben statt. Doch auch auf den Prüfständen des Amtes werden Waffen begutachtet, beispielsweise nach technischen Veränderungen. Bis zu 100 Meter lange Schießkanäle sind in dem Behördenbau versteckt.
Auf den Fluren sind Pistolen, Gewehre, Böller und Munition ausgestellt. Manches Exponat ist bei der Sicherheitsprüfung zerstört worden und dient als Lernobjekt.
Damit nicht genug: „Weiter sind wir für Munitionszulassungen und Fabrikationskontrolle zuständig“, zählt Tonnier auf, „wir prüfen Materialien für den Personen- und Objektschutz wie auch Sicherheitstechnik für öffentliche Bauten.“Mauerwände aus Kalksandstein weisen Einschusslöcher auf: Hier sind es Prüfobjekte, die der Anschauung dienen. Auch auf das Glas der Berliner Reichstagskuppel haben die Ulmer Fachleute schon gefeuert. „Unter dem Eindruck steigender Bedrohung durch Attentate, Anschläge und Überfälle wächst der Markt für Sicherheitstechnik“, heißt es beim zuständigen Regierungspräsidium Tübingen.
In einem Labor wird Tonnier konkret und zeigt, wie Material für eine Schutzweste geprüft wird, beispielsweise für einen Angriff mit einem Messer: „Aus einer definierten Fallhöhe, die den Angriff simuliert, prallt das Messer auf die Weste, die die Attacke abhalten muss.“
Zurück zur Kanzlerlimousine. Die Zusammenarbeit zwischen dem Beschussamt und den Fahrzeugherstellern beginnt während der Konstruktionsphase: „Wir bekommen die CAD-Daten und besichtigen die Konstruktion schon im Rohbau“, sagt Tonnier. Denn beim Bau der Sonderschutzmodelle, die sämtlich in Handarbeit gefertigt werden, entsteht zuerst der in sich geschlossene, gepanzerte Schutzraum. Anders formuliert: Panzerten die Autobauer bisher ihre bereits fertigen Fahrzeuge nachträglich mit Stahlplatten oder Schutzmatten, so verkleiden sie heute die fertigen Schutzräume mit Karosserieteilen, sodass die Panzerfahrzeuge äußerlich von serienmäßigen Modellen so gut wie nicht zu unterscheiden sind. Tonnier beschreibt den Vorteil des modernen Ablaufs: „Wir sehen das Fahrzeug ohne Verkleidung, können daher vermeintlich kritische Punkte vorher erkennen und sie gezielt prüfen. Bei der Schwachstellenanalyse achten die Experten auf Scharniere, Kanten, Verschweißungen, Kabeldurchlässe und
Verklebungen, denn dort könnten Geschosse ins Innere eindringen.“
In Deutschland sind neben Mercedes-Benz noch BMW und Audi auf gepanzerte Fahrzeuge spezialisiert. Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bevorzugte einen Audi A 8 in der Langversion, ihr Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) ließ sich als ehemaliger niedersächsischer Ministerpräsident gerne in einem Fahrzeug aus heimischer Produktion kutschieren: Sein VW Phaeton aber blieb ein Einzelstück. Olaf Scholz setzt auf Tradition: Schon der erste Bundeskanzler,
Konrad Adenauer (CDU), liebte seinen Mercedes, der freilich noch ungepanzert war. Erst nach der Terrorbedrohung durch die Rote Armee Fraktion (RAF) mit der Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers 1977 oder dem tödlichen Bombenattentat auf Alfred Herrhausen 1989 in seiner Mercedes S-Klasse schafften auch deutsche Politiker gepanzerte Fahrzeuge an.
Mercedes-Benz verbaut bei der Kanzlerlimousine speziellen Stahl am Heck und der Stirnwand. Eine Tür wiegt rund 200 Kilo, kann aber mithilfe spezieller Aktoren bedient werden: „Das System erleichtert insbesondere den Personenschützern die Arbeit, gleichzeitig behalten sie eine Hand frei“, heißt es beim Hersteller. Feuer von außen bekämpft eine integrierte Löschanlage mit zehn Düsen unter dem Auto und im Motorraum. Selbst ein Gasangriff soll abgewehrt werden können: Sauerstoff presst stets mit leichtem Überdruck Luft aus dem Inneren, sodass Insassen vor eindringendem Rauch oder Reizgasen geschützt sind und mit Frischluft versorgt werden. „Wichtig ist, dass die Insassen schnell aus der Gefahrenzone kommen und sich dann in Sicherheit bringen“, so Thomas Bentel, Guard-Entwicklungsingenieur bei Mercedes. Daher fährt der S Guard auch mit zerschossenen Reifen noch 30 Kilometer weit und bringt die Insassen in Sicherheit.
Vor der eigentlichen Prüfung im Beschussamt müssen dem menschlichen Körper nachgeahmte Puppen, im Fachjargon Dummys genannt, im Fahrzeug Platz nehmen. Tonnier erklärt: „Dummys, wie sie seit den 1970erJahren bei der Unfallforschung eingesetzt wurden, eignen sich für unsere Zwecke nicht, denn eine Sprengung läuft zehnmal schneller ab als ein Unfall. Die alten Dummys konnten die Belastungen daher nicht messen.“
Die Firma CTS entwickelte in Zusammenarbeit mit der Berliner Charité eigene Dummys, sie hören auf den hübschen Namen Biofidel. Dieser Dummy wurde mit Unterstützung des Beschussamts und den Herstellern von sondergeschützten Fahrzeugen speziell für Sprengversuche weiterentwickelt. Der neueste Dummy, ihn haben die Entwickler Primus getauft, ist für diesen speziellen Einsatz besonders gut geeignet: „So sind Knochendichte und -struktur dem menschlichen Skelett detailgetreu nachempfunden“, sagt ein Mercedes-Benz-Sprecher: „Als Knochenersatz wird Epoxidharz-Aluminiumpulver verwendet, als Bänder und Sehnen dienen Gurtbänder aus Propylen. Gewebe und Weichteile bestehen bei diesem Biofidel-Dummy aus Silikon und Acryl. Dank des menschenähnlichen Aufbaus sind Verletzungen von außen leicht erkennbar.“Sitzen alle Dummys an ihrem Platz, kann die Prüfung beginnen: Gepanzerte Zivilfahrzeuge teilen sich je nach Stärke der Platten und des Glases in Prüfstufen VR1 bis VR10 auf. Die Abkürzung VR bedeutet Vehicle Resistance und bezeichnet die Widerstandsfähigkeit. Hält die Schutzhülle bei VR4-Fahrzeugen Kugeln eines 44er-MagnumRevolvers stand, sind es bei VR7 Patronen eines Schnellfeuergewehres mit Nato-Munition und einer Aufprallgeschwindigkeit von über 900 m/s, also 3240 km/h. Der S 680 Guard für Kanzler Scholz aber muss die höchste ballistische Prüfstufe für Zivilfahrzeuge erfüllen: „Karosserie und Scheiben müssen dabei einem Beschuss aus einem Sturmgewehr mit entsprechender Stahlhartkern-Munition standhalten“, sagt der MercedesBenz-Sprecher. Dass Scholz vor Sprengstoffangriffen geschützt wäre, ist ebenso dokumentiert: Doch sind diese Prüfkriterien in der auf Diskretion bedachten Branche nicht frei zugänglich. Dann heißt es: „Feuer frei“mit Sprengladungen, Granaten, Minen.
Nach der Prüfung stellt sich die Frage: Wie hat der Dummy Primus die Angriffe überstanden? Hätte Scholz einen Anschlag überlebt? „Anhand der am Dummy festgestellten Beschädigungen wie an Kleidung und Haut oder gebrochenen Gliedmaßen können Rückschlüsse auf das Eindringen von Splittern oder anderen Bauteilen in den Innenraum des Fahrzeuges gezogen werden“, sagt Peter Häußler, Sachgebietsleiter beim Beschussamt. Eine starke Explosion, ein harter Aufprall und verformtes Blech soll den Dummys ebenso wenig ausmachen wie dem realen Menschen. Sind am Dummy keine Beschädigungen zu erkennen, kann das geprüfte Fahrzeug eine Bewertung von bis zu drei Sternen erhalten. Dem S 680 für den Kanzler bescheinigen die Ulmer Fachleute ein erstklassiges Prüfergebnis: „Keine Beschädigungen an Dummys und Indikatoren“, sagt der Mercedes-Benz-Sprecher und fügt hinzu: „Der S 680 war nicht nur das allererste Fahrzeug, das die aktuellen Prüfungen absolvierte, er erreichte in allen drei Prüfungen, also Dach, Boden und Seite, mit drei von drei Sternen auch die Bestwertungen.“