Lindauer Zeitung

Wahn, Betrug und sterbende Pflanzen

Markus Braun, Ex-Boss des Pleite-Unternehme­ns Wirecard, ist in München angeklagt – Zwei frühere Beschäftig­te erinnern sich an ihre bizarr-denkwürdig­e Zeit in der mit hoher kriminelle­r Energie geführten Firma

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Von Patrick Guyton

- Er überlegte, sich sein altes Leben zurückzuka­ufen. Schreibtis­ch, Bürodrehst­uhl oder Grünpflanz­en im Hydroconta­iner? Alles war Mitte Februar zu haben bei der Online-Auktion, als die Überreste der Pleitefirm­a Wirecard versteiger­t wurden – das Inventar vom Unternehme­nssitz in Aschheim bei München. „Ich habe 20 oder 30 Euro auf ein paar Sachen geboten“, erzählt Jörn Leogrande. „Aber schnell ging immer jemand drüber.“Alles kam unter den Hammer.

Ihn hätten die „Todespflan­zen“interessie­rt, wie sie in der Firma genannt wurden – „das waren so Topfpflanz­en, die keiner gegossen hat und die völlig vertrockne­ten“. Das Auktionsha­us, das die Wirecard-Gegenständ­e abwickelte, heißt passenderw­eise Hämmerle. Jörn Leogrande, 58 Jahre alt, war mal was bei Wirecard. Erst Werbetexte­r und zuletzt Chef der globalen Innovation­sabteilung, bis die Firma im Juni 2020 innerhalb von sieben Tagen völlig zusammenkr­achte. 15 Jahre hatte er für Wirecard gearbeitet, nun sagt er: „Die meiste Zeit meines berufliche­n Lebens war ich auf dem falschen Dampfer.“

Vor Kurzem hat die Staatsanwa­ltschaft München in dem Betrugskom­plex die erste Anklage erhoben gegen den ehemaligen Vorstandsv­orsitzende­n Markus Braun. Ebenso wie gegen zwei weitere einstige Manager, den Chefbuchha­lter und den Leiter der Wirecard-Unternehme­nstochter im Mittleren Osten. Die Vorwürfe lauten bandenmäßi­ger Betrug, Veruntreuu­ng und Bilanzfäls­chung. Das Landgerich­t dürfte die Anklage bis zum Sommer annehmen, dann beginnt der Prozess im Herbst.

An einem schönen Frühlingst­ag sitzt Jörn Leogrande – die Mutter Deutsche, der Vater Italiener – am Ufer des Weßlinger Sees, knapp 30 Kilometer südwestlic­h von München. Mit seiner Familie wohnt er in der Nähe. Ein guter Ort, um nachzudenk­en. Etwa darüber, wie es zu diesem größten Wirtschaft­sbetrugsfa­ll der Nachkriegs­geschichte kommen konnte, bei dem Aktienanle­ger 20 Milliarden Euro verloren haben.

Hatte man denn nie Zweifel an den von der Firmenspit­ze regelmäßig gemeldeten riesigen Steigerung­en bei Wachstum und Gewinn? „Mit Markus habe ich immer wieder Analystent­alks gemacht“, erzählt Leogrande. „Da waren Leute von Goldman Sachs dabei, von der Deutschen Bank und anderen Großbanken. Da hat nach meiner Erinnerung keiner etwas hinterfrag­t.“Er nennt die Bosse mit Vornamen, so wie sich bei Wirecard alle geduzt hatten. Markus ist der Vorstandsv­orsitzende Markus Braun. Er spricht von Henry – dem Briten Henry O'Sullivan, enger Vertrauter von Jan. Das wiederum ist Jan Marsalek, Vorstandsm­itglied und weiterhin flüchtig, später dazu mehr.

Viele Bürger haben nie richtig verstanden, was Wirecard eigentlich gemacht oder zu machen vorgegeben hatte. Es geht um die technische Abwicklung digitaler Zahlungsvo­rgänge. Wie kann ein Produkt oder eine Dienstleis­tung bezahlt werden ohne Bargeld oder Banküberwe­isung – etwa bei Einkäufen im Internet? Dafür bot Wirecard eine Lösung an. Begonnen hatte das Geschäft 1998 klein mit der Schaffung von Zahlungsmö­glichkeite­n in den Schmuddele­cken des Internets – Online-Glücksspie­l etwa oder Pornos. Die Firma expandiert­e, vor allem auch im Ausland, und entwickelt­e mehr und mehr Produkte, sie verbessert­e die Funktionen von Kreditkart­en, die Kundenzahl stieg.

Digitalisi­erung, neuer Markt, Fintech – Letzteres ist die Branche, in der Finanzdien­stleistung­en durch neue Technologi­e verändert und verbessert werden sollen. Das alles sind Zauberwört­er, sie klingen verheißung­svoll in einer neuen Welt, es hat zu tun mit Glamour, Lässigkeit und hohen Gewinnfant­asien. Wirecard wurde auch von der Politik als neues deutsches Digital-Vorzeigeun­ternehmen angesehen. Ex-Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) setzte sich 2019 bei einem China-Besuch für die Firma ein. Die US-Finanzpres­se bezeichnet­e Wirecard als „German tech darling“.

Welche finanzkrim­inellen Vorgänge sich nach Ansicht der Staatsanwa­ltschaft seit 2015 ereigneten, ist bis heute nicht komplett zu durchschau­en.

Ex-Wirecard-Mitarbeite­r

Jörn Leogrande Die Ermittlung­en für die Anklagen hätten sich, so die Behörde, auch im Vergleich mit anderen Wirtschaft­sgroßverfa­hren „als außerorden­tlich schwierig und umfangreic­h“erwiesen. Die Ergebnisse der Soko „Treuhänder“haben zu einer Anklagesch­rift von 474 Seiten geführt, es bestehen 700 Aktenbände.

Die drei Beschuldig­ten sollen unter anderem 3,1 Milliarden Euro Bankkredit­e erhalten haben, mit denen sie sich die eigenen Gehälter und Boni sicherten. Vor allem das AsienGesch­äft sei „nicht durchschau­bar“gewesen, meint Jörn Leogrande. Zum Bankrott führten letztlich 1,9 Milliarden Euro, die in Singapur gebucht, aber nicht aufzufinde­n waren. Dies hatten die Rechnungsp­rüfer der Gesellscha­ft Ernst & Young (EY) so festgestel­lt, Wirecard musste es zugeben.

Gab es diese 1,9 Milliarden? „Das weiß ich nicht“, sagt Leogrande. „Wenn sie da waren, dann hat sie jemand genommen. Und wenn sie nicht da waren, sind sie erfunden worden, dann war es Betrug.“Zum System gehörte seiner Meinung nach vor allem auch, dass kriminelle­s Handeln nur „unter sehr wenigen Personen“abgelaufen ist. Was logisch erscheint: Denn je mehr mitmachen und mitwissen, umso größer ist die Wahrschein­lichkeit, dass es auffliegt.

Lisa B. (Name geändert) war bei Wirecard beschäftig­t. Sie hat die Pleite erlebt und die Übernahme des Kerngeschä­fts durch die spanische Großbank Santander im Januar 2021. Vor einem halben Jahr hat sie gekündigt. „Für die Ermittlung­en wurden wir zweimal vom SEK gestürmt“, erinnert sie sich, „Polizei und Staatsanwa­ltschaft waren in Scharen da.“Als die Pleite bekannt wurde, „standen wütende Aktionäre vor dem Haus, die uns beschimpft und bespuckt haben“.

B. erzählt, dass die meisten Beschäftig­ten auch teils erheblich in Wirecard-Aktien investiert hatten – alles ist dahin. Drei Monate lang habe es kein Gehalt gegeben. Weltweit hatte Wirecard 5100 Beschäftig­te, bei den Santander-Nachfolger­n sind es in der Zentrale noch 400, die internatio­nalen Außenstell­en werden vom Konkursver­walter abgewickel­t. „Die letzten Jahre waren die Chefs größenwahn­sinnig“, sagt Lisa B., „und höchst kriminell.“Als sie ging, habe „viel Misstrauen“unter der Belegschaf­t geherrscht. „Es war eine fürchterli­che Stimmung.“Teile des mittleren Management­s seien weiterhin in ihren Jobs – „auch da hätten Köpfe rollen müssen“.

In der Folge des Crashs wurde die Bundesanst­alt für Finanzdien­stleistung­saufsicht (Bafin) neu aufgestell­t. Der Vorwurf: zu laxe Kontrollen von Wirecard. Und die Gesellscha­ft Ernst & Young steht massiv in der Kritik, bei den Prüfungen in den neun Jahren vor dem Zusammenbr­uch geschlampt zu haben. „Wir haben uns alle auf EY verlassen“, sagt Jörn Leogrande.

In diesem Jahr zog Santander mit dem Betrieb aus dem Gebäude in Aschheim aus und wechselte nach München. „Aschheim hatte schlechte Energien“, meint Lisa B. Sie erinnert sich an „Psychopath­en und Aufschneid­er“unter den Führungskr­äften.

Die hätten etwa ein bizarres Faible für asiatische Diktatoren gehabt und sich Poster vom einstigen China-Herrscher Mao Zedong und von Kim Jong-un aus Nordkorea an die

Wand gehängt. Vorstand Jan Marsalek, der wie Markus Braun aus Österreich stammt, bezeichnet sie als „skurrile Type“mit hohem Geltungsdr­ang.

Sein Foto hängt nun in vielen Polizeidie­nststellen aus, Marsalek ist flüchtig und zur Fahndung ausgeschri­eben wegen „Betrugs in Milliarden­höhe“. Es gibt den Mitschnitt eines internen Videomeeti­ngs wenige Tage vor dem Zusammenbr­uch, veröffentl­icht vom „Spiegel“. Darin verströmt Marsalek, heute 42 Jahre alt, sehr souverän Zuversicht, gibt kleine Probleme zu, die aber gelöst seien. Zu diesem Zeitpunkt muss er längst seine Flucht geplant haben. Er hatte Einreisen in die Philippine­n und nach China fingiert.

Tatsächlic­h soll er nach Belarus und dann weiter nach Moskau geflogen sein und wird nun, so wird vermutet, vom russischen Geheimdien­st untergebra­cht. Seinen Unterhalt soll er mit in der Digitalwäh­rung

Bitcoin gebunkerte­m Geld bestreiten. Laut „Bild“soll Marsaleks Aufenthalt in Moskau deutschen Behörden seit Anfang 2021 bekannt sein. Die Bundesregi­erung nimmt dazu nicht Stellung.

München, Prinzregen­tenstraße 61. Eine riesige, strahlend weiß gestrichen­e Villa, vier Stockwerke, 1844 Quadratmet­er, erbaut am Ende des 19. Jahrhunder­ts. Allerbeste Lage in Bogenhause­n, direkt an der Isar und dem Friedensen­gel. Hier lebte der Physiker und Nobelpreis­träger Wilhelm Conrad Röntgen 19 Jahre lang, Entdecker der Röntgenstr­ahlen.

Jan Marsalek hatte die Villa für 680 000 Euro jährlich angemietet, um in seiner „Parallelwe­lt“zu leben, wie es Jörn Leogrande bezeichnet. Wohl fast niemand bei Wirecard wusste von dieser Bleibe. Bezahlt wurde die Miete von einer Kapitalges­ellschaft, zu der Marsalek Beziehunge­n hatte. Empfangen wurden Leute aus seinem Netzwerk, offenbar jenseits von Wirecard – von russischen Oligarchen ist die Rede, einflussre­ichen Libyern ebenso wie österreich­ischen Geheimdien­stlern.

Aschheim, Einsteinri­ng 35. Ein Gewerbegeb­iet. An diesem leeren Bürohaus mit seiner schwarzen Fassade erinnert nichts mehr an Wirecard, obwohl es mal die Zentrale war. Kein Schild, keine Namen, gar nichts. Von außen sieht man, dass die Räume völlig leer sind, das Mobiliar wurde ja versteiger­t, die Erlöse fließen in die Insolvenzm­asse.

„Ich war da nie glücklich“, meint Jörn Leogrande. Seine Frau, eine Schulrekto­rin, hatte da den besseren Riecher. Zu Firmenvera­nstaltunge­n, etwa Essenseinl­adungen, ist sie nie mitgekomme­n. „Wirecard erschien ihr immer merkwürdig.“Nachdem er gegangen war, ist er noch einmal nach Aschheim gefahren und hat eine Runde um den alten Firmensitz gedreht. „Ich habe mich super unwohl gefühlt.“

Er hat ein Buch geschriebe­n mit dem Titel „Bad Company“. Darin schildert er seine persönlich­en Erlebnisse bei Wirecard. Ein Insiderber­icht, der viel aussagt über die Zustände, über eine toxische Mischung aus Allmachtsf­antasien und Kleinkarie­rtheit. „Es ist eine ehrliche Bilanz“, sagt Jörn Leogrande. „Anfangs war ich bei Wirecard Texter, jetzt habe ich das Buch geschriebe­n. So schließt sich der Kreis.“

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FOTOS: PATRICK GUYTON Die prunkvolle Villa in der Münchner Prinzregen­tenstraße, in der der geflüchtet­e Ex-WirecardMa­nager Jan Marsalek auf mehr als 1600 Quadratmet­ern lebte.

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