Lindauer Zeitung

Kräfteverl­agerung nach Osten

Ukraine-Krieg hat das Bedrohungs­gefühl in Europa verschärft – Finnland und Schweden erwägen Nato-Beitritt

- Von Stefan Kegel

- Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine rückt etwas in Reichweite, vor dem Experten schon vor Jahren gewarnt haben: eine neue Konfrontat­ion der Nato mit dem Riesenland im Osten. Nachdem Westeuropa jahrzehnte­lang davon ausgegange­n war, dass die gegenseiti­ge atomare Abschrecku­ng als Sicherheit­sgarantie genügt, setzt das Bündnis nun auf eine Stärkung konvention­eller militärisc­her Mittel: Panzer, Flugzeuge, Schiffe, Truppen. Plötzlich rücken die osteuropäi­schen Nato-Mitglieder als neue Frontstaat­en gegenüber Russland in den Fokus. Was bedeutet das für Europa?

Die Worte von Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g lassen an Deutlichke­it wenig zu wünschen übrig: „Was wir sehen, ist eine neue Wirklichke­it, eine neue Normalität für Europa.“Er sprach sogar von einem Neustart, einer langfristi­gen Neuaufstel­lung der Nato. „Egal, wann und wie der Krieg in der Ukraine endet, er hat bereits jetzt Langzeitfo­lgen für unsere Sicherheit.“

Der angepeilte militärisc­he Aufbau an den Ostgrenzen des Bündnisses basiert bisher auf dem Prinzip „Stolperdra­ht“. Es wurden relativ kleine Verbände im Baltikum oder auch in Polen stationier­t, um die Entschloss­enheit des Bündnisses zu demonstrie­ren, das Territoriu­m aller Mitgliedst­aaten zu verteidige­n. Mit der neuen Strategie rückt die Nato davon ab. Jetzt geht es um den Aufbau von tatsächlic­hen militärisc­hen Verbänden, um eine eventuelle Invasion nicht nur abzuschrec­ken, sondern tatsächlic­h verhindern zu können. „Wir müssen sicherstel­len, dass wir weiterhin fähig sind, alle NatoAlliie­rten zu beschützen und zu verteidige­n“, sagte Stoltenber­g. Dafür sei eine „vollumfäng­liche Präsenz“an der Ostflanke notwendig.

Gegenwärti­g rücken auch bisher neutrale Staaten wie Finnland oder Schweden an das Bündnis heran, die bisher zwar Partner, aber keine Mitglieder waren. Finnlands Ministerpr­äsidentin Sanna Marin ist dabei auf einen ziemlich deutlichen Kurs für eine Mitgliedsc­haft eingeschwe­nkt. „Der Nato-Artikel 5 bietet eine umfassende Sicherheit. Die Nato hat auch gemeinsame Übungen und eine gemeinsame Verteidigu­ngspolitik“,

erklärte sie mit Blick auf den sogenannte­n Beistandsp­aragrafen des Bündnisses. Er sieht vor, dass ein Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle bewertet wird und eine

Vor dem Hintergrun­d des UkraineKri­egs sind in Tschechien Spekulatio­nen über eine mögliche dauerhafte US-Truppenprä­senz in dem NatoMitgli­edstaat aufgekomme­n. Der Opposition­spolitiker und Ex-Ministerpr­äsident Andrej Babis forderte bereits ein Referendum vor einem solchen Schritt, wie die Zeitung „Lidove noviny“berichtete. entspreche­nde Reaktion nach sich zieht. Bis Mitte des Jahres soll das finnische Parlament über einen Antrag für eine Aufnahme entscheide­n. Seit Kriegsbegi­nn hat sich die

Der 67-Jährige lehnte eine USMilitärb­asis zugleich als unnötig ab und sprach von einem „sehr sensiblen Thema“. Beobachter rechnen damit, dass Babis im nächsten Jahr für das Präsidente­namt kandidiere­n wird. Das Verteidigu­ngsministe­rium in Prag stellte klar, dass weder eine entspreche­nde Anfrage aus Washington noch ein konkreter Plan

Zustimmung für einen Nato-Beitritt verdoppelt, von 30 auf 60 Prozent der Bevölkerun­g.

Das Land hat eine 1300 Kilometer lange Grenze mit Russland. Eine Aufnahme auf dem Tisch liege. Man habe aber Interesse an einem Abkommen über eine verstärkte Verteidigu­ngskoopera­tion mit den USA. Das werde Thema bei einem geplanten Treffen der Ministerin Jana Cernochova mit ihrem US-Kollegen Lloyd Austin sein. Vorbild für das Abkommen könnte ein jüngst abgeschlos­sener Vertrag der USA mit

Finnlands würde also die direkte Grenze von Russland und Nato in Europa verdreifac­hen. Bislang haben das Bündnis und Russland nur in den baltischen Staaten und Norwegen der Slowakei sein, der unter anderem den Ausbau von zwei Militärflu­gplätzen vorsieht. Tschechien ist seit März 1999 Mitglied der Nato. Vor mehr als fünfzehn Jahren sorgten Pläne für den Aufbau von Teilen eines neuen US-Raketensch­utzschilds für Europa auf dem tschechisc­hen Truppenübu­ngsplatz Brdy für Protestkun­dgebungen. (dpa)

eine gemeinsame Grenze – und streng genommen auch im äußersten Osten, zwischen Russland und dem US-Bundesstaa­t Alaska.

Auch in Schweden, das über keine direkte Grenze mit Russland verfügt, wird gegenwärti­g ein Nato-Beitritt diskutiert. Allerdings dürfte der sozialdemo­kratischen Regierung von Ministerpr­äsidentin Magdalena Andersson ein Schwenk schwerer fallen als den Finnen, weil ihre Partei noch im vergangene­n Jahr einen Nato-Beitritt kategorisc­h ausgeschlo­ssen hatte – und im Herbst Wahlen anstehen. Dennoch hat sie einen internen „sicherheit­spolitisch­en Dialog“in Gang gesetzt, der auch die Gefahr durch Russland einschätze­n soll.

In Russland werden diese Entwicklun­gen mit Argusaugen verfolgt. Zwar erklärte ein Kremlsprec­her, dass eine Nato-Erweiterun­g um Finnland und Schweden keine „existenzie­lle Bedrohung“Russlands darstelle. Allerdings müsse sein Land in diesem Fall die Situation neu ausbalanci­eren und seine westliche Flanke stärker schützen.

In der deutschen Politik findet die neue Nato-Strategie zahlreiche Unterstütz­er. „Es ist klar, dass die NatoOstfla­nke gestärkt werden muss“, sagt Nils Schmid, außenpolit­ischer Sprecher der SPD-Bundestags­fraktion. Die Bedrohungs­lage für die Nato, Europa und Deutschlan­d habe sich „massiv verschärft“, betont er. „Wir müssen unsere Abschrecku­ng ausweiten.“

Das sieht man in Polen ganz ähnlich. Da in dem Land keine US-Atomwaffen zur Abschrecku­ng stationier­t sind, weitet es seine konvention­elle Kraft deutlich aus. Erst kürzlich unterschri­eb Verteidigu­ngsministe­r Mariusz Blaszczak einen Vertrag, der die Lieferung von 250 AbramsKamp­fpanzern aus den USA vorsieht. Das Land gilt als Vorzeigemi­tglied der Nato, schon seit Jahren erfüllt es das Zwei-Prozent-Ziel des Bündnisses. Angesichts des Krieges in der Ukraine plant die Regierung eine Aufstockun­g auf drei Prozent. Es verfügt über die größte Panzerstre­itmacht der Nato: 1115 Kampfpanze­r und rund 2000 Schützenpa­nzer.

Rufe aus Polen nach einer Stationier­ung von US-Nuklearwaf­fen auf polnischem Territoriu­m lehnt der SPD-Politiker Schmid vorerst ab. „Ich wäre da vorsichtig­er“, betont er.

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FOTO: JOSEF VOSTAREK/IMAGO Anfang April brechen tschechisc­he Soldaten auf, um Nato-Kontingent­e in der Slowakei zu verstärken.

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