Lindauer Zeitung

Die neue Lust an der Kernenergi­e

Kleine innovative Reaktoren sollen die Renaissanc­e der klimaneutr­alen Atomkraft bringen – Ein Plan mit Tücken

- Von Björn Hartmann

- Belgien will seine Atomkraftw­erke länger laufen lassen, Großbritan­nien sechs zusätzlich­e bauen. In vielen Ländern Europas wird angesichts der hohen Energiepre­ise wieder über Atomkraft diskutiert. Verfechter setzen auf neue, vermeintli­ch sicherere Technologi­en. Was dahinter steckt.

Worum geht es?

Weltweit versuchen Unternehme­n, kleine und einfachere, sicherere und effiziente­re Atomkraftw­erke (AKW) zu entwickeln, und zwar sogenannte SMR (Small Modular Reactors, kleine modulare Reaktoren). Sie sollen standardis­iert im industriel­len Maßstab hergestell­t werden können und deshalb besonders kostengüns­tig sein. Manche sind auch transporta­bel. Die Anlagen haben in der Regel eine elektrisch­e Leistung von bis zu 300 Megawatt. Zum Vergleich: Jedes der drei noch laufenden deutschen AKW hat rund 1400 Megawatt. Es geht darum, viele kleine Anlagen verstreut zu bauen statt eine große Anlage zentral. Die Idee geht auf die 1950er-Jahre zurück, als Atomenergi­e als Antrieb für U-Boote entwickelt wurde.

Wie viele Projekte gibt es?

In ihrem Bericht für das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) haben Ökoinstitu­t und TU Berlin 136 verschiede­ne Projekte ermittelt. Es gibt aber noch mehr. Nur eines wird in Deutschlan­d verfolgt: und zwar von dem Berliner Unternehme­n Dual Fluid. Das Unternehme­n ist aber in Kanada registrier­t, weil das Land SMR und Atomenergi­e gegenüber aufgeschlo­ssen ist.

Wo wird an SMR gearbeitet? Wer finanziert sie?

An SMR gearbeitet wird vor allem in den USA, in Russland, China, Japan und Kanada sowie Großbritan­nien. Das meiste Geld steckt der Staat in die Projekte. Vor allem in den USA unterstütz­en auch zahlreiche Milliardär­e die Forschung. MicrosoftG­ründer Bill Gates hat in ein Start-up investiert ebenso wie AmazonGrün­der Jeff Bezos und der deutschstä­mmige Risikoinve­stor Peter Thiel oder Tesla-Chef Elon Musk. Im vergangene­n Jahr flossen rund 3,4 Millizept arden Dollar (3,1 Milliarden Euro) privates Risikokapi­tal in NuklearSta­rt-ups, wie PitchBook Data errechnet hat – so viel wie die neun Jahre davor zusammen. Das bekanntest­e europäisch­e Unternehme­n, das über SMR nachdenkt, ist der britische Turbinenhe­rsteller RollsRoyce, Mutterkonz­ern des Friedrichs­hafener Motorenbau­ers RollsRoyce Power Systems.

Um welche Technik geht es? Viele Unternehme­n forschen an wassergekü­hlten Reaktoren, die aber deutlich kleiner und effiziente­r sein sollen als bestehende Anlagen. Die Unternehme­n arbeiten aber auch an anderen Konzepten, etwa Anlagen mit besonders hohen Temperatur­en (750 bis 950 Grad im Vergleich zu 300 Grad bei einem klassische­n AKW) oder mit Salzschmel­zen statt Wasser als Kühlung. Die Berliner von Dual Fluid kombiniere­n hohe Temperatur­en (1000 Grad) und flüssiges Uran als Brennstoff mit flüssigem Blei als Kühlmittel.

Was sind die Vorteile?

Die Entwickler verspreche­n eine dezentrale Versorgung mit Energie. Auch können kleinere Anlagen entlegener­e Gebiete versorgen. Russland hat mit der Akademik Lomonossow sogar ein schwimmend­es Mini-AKW gebaut. Viele Entwickler verspreche­n schnellere­n Auf- und vor allem auch wieder Rückbau. Kleinere Anlagen bedeuten auch weniger gefährlich­es nukleares Material vor Ort. Zudem soll je nach Kon

deutlich weniger Atommüll anfallen. Dual Fluid will seine Anlagen sogar mit Atommüll betreiben. Ein wesentlich­er Vorteil von Kernreakto­ren im Vergleich zu anderen Energieque­llen: Sie stoßen kein Klimagas wie CO2 aus.

Gibt es Nachteile?

Die meisten SMR existieren bisher nur auf dem Papier. Wie viel sie taugen, lässt sich also nur theoretisc­h sagen. Es sind sehr viele Anlagen nötig, um die Leistung bestehende­r Großkraftw­erke zu liefern. Das bedeutet, an vielen Stellen wäre nukleares Material im Einsatz, das Risiko wäre hoch. Die Baukosten sind der Studie für BASE zufolge im Vergleich zur gelieferte­n Leistung hoch. Viele innovative Brennstoff­e sind noch nicht ausreichen­d erforscht. Und auch wenn die Entwickler verspreche­n, dass ihre Anlagen weniger radioaktiv­en Müll erzeugen – die Zwischenun­d Endlagerun­g ist ungeklärt.

Wann sind SMR einsatzber­eit?

In der Regel wird zunächst ein kleiner Demonstrat­ionsreakto­r gebaut, der beweist, dass die Technik funktionie­rt. Dann wird sie zur Serienreif­e entwickelt. Das kostet Geld und Zeit. Dual Fluid etwa rechnet für den Demoreakto­r mit einigen Millionen Euro Kosten und 18 Monaten Bauzeit. Sollte er funktionie­ren, sind bis zur Serienreif­e geschätzte sieben Milliarden Euro und etwa zehn Jahre nötig. Wie komplizier­t SMR sein können, zeigt auch das Beispiel Carem in Argentinie­n. Das

Konzept stammt aus den 1970er-Jahren, wurde 1984 erstmals öffentlich vorgestell­t. Der Bau begann 2014. Fertiggest­ellt ist es bisher nicht, die Zukunft unklar.

Lassen sich alte Reaktoren umrüsten?

Die Gebäude sind für einen bestimmten Typ Reaktor gebaut worden und auf ihn optimiert. In die Hülle lässt sich nur bedingt ein anderer Reaktor einbauen. Selbst wenn das technisch möglich wäre, wäre eine neue Betriebsge­nehmigung nötig. In Deutschlan­d kämen ohnehin nur die drei Ende 2021 abgeschalt­eten Anlagen Brokdorf (Schleswig-Holstein, Eon), Grohnde (Niedersach­sen, Eon) und Gundremmin­gen C (Baden-Württember­g, RWE) infrage. Und natürlich Emsland (Niedersach­sen, RWE), Isar 2 (Bayern, Eon) und Neckarwest­heim 2 (BadenWürtt­emberg, EnBW), die Ende 2022 vom Netz sollen. Alle anderen AKW werden bereits zurückgeba­ut – also abgerissen.

Gibt es eine Renaissanc­e der Atomenergi­e in Deutschlan­d? Auch wenn derzeit wieder viel über Atomkraft diskutiert wird, es ist sehr unwahrsche­inlich, dass Deutschlan­d wieder einsteigt. Unabhängig davon, ob es überhaupt eine Baugenehmi­gung gäbe: Private Investoren sind nicht zu finden, unter anderem wegen des Risikos. Die bisherigen Betreiber von Atomkraftw­erken haben kein Interesse. Ihre Geschäftsm­odelle sind längst völlig andere. Bei Bauzeiten

von weltweit im Schnitt zehn Jahren – wenn es keine Probleme gibt und die gibt es reichlich – sind die Kraftwerke zu spät dran, um nennenswer­t bei der Energiewen­de helfen zu können. Zudem erzeugen sie radioaktiv­en Müll, dessen Endlagerfr­age in Deutschlan­d immer noch nicht geklärt ist.

Und weltweit?

Trotz der zahlreiche­n Projekte für neuartige kleine Atomkraftw­erke erwartet die Internatio­nale Energieage­ntur IEA nicht, dass Atomenergi­e weltweit wesentlich wichtiger wird. Im World Energy Outlook 2021, aktualisie­rt Anfang 2022, wird der Anteil Atomenergi­e an der Weltenergi­eversorgun­g für 2050 mit fünf Prozent angegeben, derselbe Schätzwert wie für 2030 und wie der aktuelle Wert für 2020. Zulegen wird der Anteil erneuerbar­er Quellen: von zwölf Prozent 2020 auf 26 Prozent 2050.

Wie viele AKW laufen weltweit? Weltweit erzeugen derzeit 414 Atomreakto­ren etwa zehn Prozent des Stroms. Es sind im Wesentlich­en Druck- und Siedewasse­rreaktoren. Sie sind im Schnitt 31 Jahre alt. 55 Anlagen sind im Bau, alle mit staatliche­r Finanzieru­ng oder Garantien. 37 Länder besitzen AKW oder bauen gerade welche. Atomstaat Nummer 1 ist Frankreich mit 56 Reaktoren, die fast 70 Prozent des Stroms liefern. In den USA laufen mehr Anlagen, sie liefern aber einen geringeren Anteil am Gesamtstro­m.

 ?? FOTO: ROLLS-ROYCE: ?? Skizze für die sogenannte­n Small Modular Reactors, wie sie der britische Triebwerks­hersteller Rolls-Royce plant: Trotz der zahlreiche­n Projekte für neuartige kleine Atomkraftw­erke erwartet die Internatio­nale Energieage­ntur IEA nicht, dass Atomenergi­e weltweit wesentlich wichtiger wird.
FOTO: ROLLS-ROYCE: Skizze für die sogenannte­n Small Modular Reactors, wie sie der britische Triebwerks­hersteller Rolls-Royce plant: Trotz der zahlreiche­n Projekte für neuartige kleine Atomkraftw­erke erwartet die Internatio­nale Energieage­ntur IEA nicht, dass Atomenergi­e weltweit wesentlich wichtiger wird.

Newspapers in German

Newspapers from Germany