Immer mehr Senioren auf der Anklagebank
Hochschule München untersucht Alterskriminalität – Mehr als 700 Rentner in süddeutschen Gefängnissen
- Die Menschen werden hierzulande nicht nur immer älter, sondern bleiben auch länger fit. Das hat nicht nur Folgen für das Gesundheitswesen, sondern auch für Justiz und Justizvollzug. Die bayerische Kriminalstatistik verzeichnet eine langsame, aber stetige Zunahme der Zahl der Täter, die 60 Jahre und älter sind.
In der bayerischen Kriminalstatistik haben die erfassten Straftäter ab 60 die Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) bereits überholt. 2009 waren 10,5 Prozent aller ermittelten Straftäter Heranwachsende und 7,3 Prozent Senioren. 2015 betrug das Verhältnis Jung zu Alt unter den Straftätern 12,6 zu 8,3 Prozent. 2020 überstieg der Anteil der mindestens 60-Jährigen unter den Straftätern den der Heranwachsenden bereits (9,2 Prozent gegenüber 9,0 Prozent).
Alterskriminalität sei angesichts des Anstiegs der Zahl der älteren Menschen und der zunehmenden Lebenserwartung bei einem weitgehend aktiveren Lebensstil ein „Phänomen mit steigender Tendenz“, stellt der Sozialwissenschaftler Stefan Pohlmann von der Hochschule München fest. Der „aktive Lebensstil“äußert sich aber kaum in spektakulären Straftaten wie Banküberfällen oder Messerstechereien, sondern in „typischen Verstößen“. Die höchsten Zahlen an Tatverdächtigen im gesetzten Alter wurden bei den Diebstahlsdelikten ermittelt, gefolgt von Beleidigungen, leichten Körperverletzungen und Betrug. Dabei fallen die wenigen Fälle, in denen sich hochbetagte ehemalige NS-Schergen und KZ-Aufseher vor Gericht verantworten müssen, nicht ins Gewicht.
Welche Motive führen Senioren auf die Anklagebank? Das Team um Pohlmann ermittelte sieben „subjektive Rechtfertigungskategorien“. Darunter sind Langeweile und die Sehnsucht nach Spannung, Ablenkung und Nervenkitzel, aber auch existenzielle Not oder die Angst vor einem sozialen Abstieg. Weitere Motive
sind kognitive Veränderungen oder psychische Störungen, Rache und Selbstjustiz sowie Fehleinschätzungen der Strafbarkeit des eigenen Verhaltens. In einigen Fällen werde auch ein warmes Plätzchen im Gefängnis angestrebt, weil die eigenen Lebensumstände so miserabel erscheinen, ermittelte die Forschergruppe der Hochschule München. Ein einzelner universell gültiger Erklärungsansatz für „Devianz“(Abweichung von der Norm) im Alter lasse sich aber nicht finden.
Mehr Straftäter über 60 bedeuten auch mehr ältere Häftlinge in den Vollzugsanstalten und neue Anforderungen an den Strafvollzug. Zum 31. März 2021 waren in bayerischen Strafanstalten 468 der insgesamt 9584 Gefangenen und Sicherheitsverwahrten 60 Jahre und älter, darunter 114 über 70 Jahre. Mit den älteren Strafgefangenen gehe man soweit möglich individuell um, erläutert das Landesjustizministerium.
In Baden-Württemberg werden laut Auskunft eines Sprechers des Justizministeriums Gefängnisinsassen ab dem Alter von 62 Jahren gesondert erfasst. Im Jahr 2022 sind das 256 von insgesamt 6213 Strafgefangenen – etwa vier Prozent. 2021 waren es 260. In den vergangenen Jahren sei die Zahl trotz einiger Ausschläge einigermaßen konstant geblieben, sagt der Sprecher. Die älteste vorliegende Zahl stammt aus dem Jahr 2015, als 245 Menschen über 62 Jahren in den Gefängnissen des Landes inhaftiert waren. Schließlich spielt auch das besonders traurige Kapitel des Ablebens hinter Gittern eine Rolle.
Im Gefängnis sterben nur wenige Gefangene, berichtete der ehemalige Pfarrer des Gefängniskrankenhauses Hohenasperg bei Stuttgart, Petrus Ceelen. Meistens würden sie „kurz vor zwölf“aus dem Gefängnis entlassen, „damit sich die Justiz nicht nachsagen lassen muss, sie sei inhuman.“Dennoch kämen „nicht alle Schwerstkranken lebend aus dem Knast“. Nach nicht bestätigten Schätzungen sollen etwa 100 Menschen pro Jahr ihr Leben hinter Gefängnismauern beenden.