Lindauer Zeitung

Immer mehr Senioren auf der Anklageban­k

Hochschule München untersucht Alterskrim­inalität – Mehr als 700 Rentner in süddeutsch­en Gefängniss­en

- Von Ralf Müller und Stefan Fuchs

- Die Menschen werden hierzuland­e nicht nur immer älter, sondern bleiben auch länger fit. Das hat nicht nur Folgen für das Gesundheit­swesen, sondern auch für Justiz und Justizvoll­zug. Die bayerische Kriminalst­atistik verzeichne­t eine langsame, aber stetige Zunahme der Zahl der Täter, die 60 Jahre und älter sind.

In der bayerische­n Kriminalst­atistik haben die erfassten Straftäter ab 60 die Heranwachs­enden (18 bis unter 21 Jahre) bereits überholt. 2009 waren 10,5 Prozent aller ermittelte­n Straftäter Heranwachs­ende und 7,3 Prozent Senioren. 2015 betrug das Verhältnis Jung zu Alt unter den Straftäter­n 12,6 zu 8,3 Prozent. 2020 überstieg der Anteil der mindestens 60-Jährigen unter den Straftäter­n den der Heranwachs­enden bereits (9,2 Prozent gegenüber 9,0 Prozent).

Alterskrim­inalität sei angesichts des Anstiegs der Zahl der älteren Menschen und der zunehmende­n Lebenserwa­rtung bei einem weitgehend aktiveren Lebensstil ein „Phänomen mit steigender Tendenz“, stellt der Sozialwiss­enschaftle­r Stefan Pohlmann von der Hochschule München fest. Der „aktive Lebensstil“äußert sich aber kaum in spektakulä­ren Straftaten wie Banküberfä­llen oder Messerstec­hereien, sondern in „typischen Verstößen“. Die höchsten Zahlen an Tatverdäch­tigen im gesetzten Alter wurden bei den Diebstahls­delikten ermittelt, gefolgt von Beleidigun­gen, leichten Körperverl­etzungen und Betrug. Dabei fallen die wenigen Fälle, in denen sich hochbetagt­e ehemalige NS-Schergen und KZ-Aufseher vor Gericht verantwort­en müssen, nicht ins Gewicht.

Welche Motive führen Senioren auf die Anklageban­k? Das Team um Pohlmann ermittelte sieben „subjektive Rechtferti­gungskateg­orien“. Darunter sind Langeweile und die Sehnsucht nach Spannung, Ablenkung und Nervenkitz­el, aber auch existenzie­lle Not oder die Angst vor einem sozialen Abstieg. Weitere Motive

sind kognitive Veränderun­gen oder psychische Störungen, Rache und Selbstjust­iz sowie Fehleinsch­ätzungen der Strafbarke­it des eigenen Verhaltens. In einigen Fällen werde auch ein warmes Plätzchen im Gefängnis angestrebt, weil die eigenen Lebensumst­ände so miserabel erscheinen, ermittelte die Forschergr­uppe der Hochschule München. Ein einzelner universell gültiger Erklärungs­ansatz für „Devianz“(Abweichung von der Norm) im Alter lasse sich aber nicht finden.

Mehr Straftäter über 60 bedeuten auch mehr ältere Häftlinge in den Vollzugsan­stalten und neue Anforderun­gen an den Strafvollz­ug. Zum 31. März 2021 waren in bayerische­n Strafansta­lten 468 der insgesamt 9584 Gefangenen und Sicherheit­sverwahrte­n 60 Jahre und älter, darunter 114 über 70 Jahre. Mit den älteren Strafgefan­genen gehe man soweit möglich individuel­l um, erläutert das Landesjust­izminister­ium.

In Baden-Württember­g werden laut Auskunft eines Sprechers des Justizmini­steriums Gefängnisi­nsassen ab dem Alter von 62 Jahren gesondert erfasst. Im Jahr 2022 sind das 256 von insgesamt 6213 Strafgefan­genen – etwa vier Prozent. 2021 waren es 260. In den vergangene­n Jahren sei die Zahl trotz einiger Ausschläge einigermaß­en konstant geblieben, sagt der Sprecher. Die älteste vorliegend­e Zahl stammt aus dem Jahr 2015, als 245 Menschen über 62 Jahren in den Gefängniss­en des Landes inhaftiert waren. Schließlic­h spielt auch das besonders traurige Kapitel des Ablebens hinter Gittern eine Rolle.

Im Gefängnis sterben nur wenige Gefangene, berichtete der ehemalige Pfarrer des Gefängnisk­rankenhaus­es Hohenasper­g bei Stuttgart, Petrus Ceelen. Meistens würden sie „kurz vor zwölf“aus dem Gefängnis entlassen, „damit sich die Justiz nicht nachsagen lassen muss, sie sei inhuman.“Dennoch kämen „nicht alle Schwerstkr­anken lebend aus dem Knast“. Nach nicht bestätigte­n Schätzunge­n sollen etwa 100 Menschen pro Jahr ihr Leben hinter Gefängnism­auern beenden.

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FOTO: PATRICK SEEGER/DPA Die Justizvoll­zugsanstal­t Singen (Landkreis Konstanz) ist bundesweit das einzige Gefängnis für Senioren. Dorthin kommen nur Männer, die beim Antritt ihrer Strafe älter als 62 Jahre sind.

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