Das Glück des Boris Johnson
Warum der britische Premier trotz seines Rechtsbruchs im Amt bleiben kann
- Die britische Regierungszentrale in der Downing Street Nummer 10 haben schon viele Taugenichtse, Rowdys und halbseidene Gestalten bewohnt. Keinem seiner 51 Vorgänger und schon gar nicht seinen Vorgängerinnen Margaret Thatcher und Theresa May aber ist widerfahren, was Premier Boris Johnson am Dienstag passierte: Wegen eines Rechtsbruchs, nämlich einem Verstoß gegen geltende Corona-Regeln, stellte ihm die Londoner Kriminalpolizei einen Zahlungsbefehl zu.
Er habe seine Strafe (100 Pfund gleich 120 Euro) bezahlt und entschuldige sich „demütig“, teilte der Regierungschef mit. Rücktrittsforderungen beantwortete Johnson vornehm, er fühle „ein umso größeres Pflichtgefühl“, seine Aufgabe weiterzuführen.
Fünf Faktoren sprechen dafür, dass der 57-Jährige tatsächlich – jedenfalls vorläufig – im Amt bleiben kann: der Anlass der Strafe; der Zeitpunkt der Strafe; die innenpolitische Situation; der russische Krieg gegen die Ukraine; der Mangel an glaubwürdigen Alternativen.
Der Anlass der Strafe war eine Feier zu Johnsons 56. Geburtstag am 19. Juni 2020: Im Konferenzsaal der Downing Street warteten seine Gattin Carrie sowie zwei Dutzend Mitarbeiter auf den Premier, um „Happy Birthday“zu singen. Auch Finanzminister Rishi Sunak stieß dazu.
Johnson beteuerte am Dienstag, die ganze Angelegenheit habe neun Minuten gedauert – dennoch war sie ein klarer Verstoß gegen geltendes Recht. Immerhin dürfte diese Lockdown-Party unter den insgesamt zwölf von der Kripo untersuchten Zwischenfällen zu den milderen Varianten gehören. Genützt hat Johnson zudem, dass auch der Finanzminister eine Zahlungsaufforderung erhielt – bei einem gemeinsamen Rücktritt hätte das Land auf einen Schlag die zwei wichtigsten Führungspersonen verloren.
Ebenso hilfreich für den Premier war der Zeitpunkt der Strafe. Das Land befindet sich in der Osterpause, das Unterhaus tritt erst am Dienstag wieder zusammen. Die Pandemie ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Fast scheint es, als wolle die Bevölkerung nicht mehr an die Lockdowns erinnert werden, zumal im Nachhinein viele die damals geltenden Regeln für übertrieben halten.
Die innenpolitische Situation tut ihr Übriges: Drei Wochen vor den Kommunalwahlen will kaum ein Konservativer die Einheit der Partei gefährden. Die frühere schottische Tory-Vorsitzende Ruth Davidson sowie der unbekannte Hinterbänkler Nigel Mills blieben einsame Rufer nach personellen Konsequenzen, wenn sie auch Unterstützung durch konservative Publizisten wie Lord Danny Finkelstein erhielten. Dass umgekehrt Labour-Chef Keir Starmer und andere wichtige Oppositionspolitiker erneut Johnsons Rücktritt fordern, wirkt wie WahlkampfGetümmel.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Johnsons Image verändert: Aus dem verstrubbelten Durchwurstler ist ein wohlgekämmter Staatsmann geworden, der beinahe täglich mit seinem Freund Volodymyr Selenskyj telefoniert und diesen am vergangenen Wochenende auch in Kiew besuchte. Mitten im Krieg wechsele man nicht den Premierminister, argumentieren Johnsons Verteidiger. Dabei wurden sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg die Regierungschefs gestürzt.
Für die konservativen Unterhaus-Abgeordneten, die über Johnsons Verbleib im Amt entscheiden, dürfte der Mangel an glaubwürdigen Alternativen schwer wiegen. Finanzmann Sunak ist durch die eklatante Steuervermeidung seiner millionenschweren Gattin beschädigt, Außenministerin Liz Truss macht allzu aggressiv Werbung in eigener Sache, der einstige Brexit-Vorkämpfer Michael Gove gilt als brillant, aber unzuverlässig.
Johnson bleibt also auf absehbare Zeit in der Downing Street, mit zwei Einschränkungen: Zum einen könnten weitere der insgesamt zwölf untersuchten Lockdown-Partys zu Geldstrafen gegen den Premier führen, was wohl die Bewertung durch die Öffentlichkeit verändern würde. Zum anderen stehen die Kommunalwahlen drohend am Horizont. Sollte der einstige Brexit-Marktschreier den Konservativen statt schöner Siege eine saftige Niederlage bescheren, wäre es ganz schnell vorbei mit seiner Amtszeit.