Lindauer Zeitung

Was muss Demokratie aushalten?

Montagsspa­ziergang-Organisato­r Ley Kothe diskutiert mit Kemptens Oberbürger­meister Thomas Kiechle über die Pandemie

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- Nach wie vor gehen bei Corona-Demos in Kempten Hunderte Menschen auf die Straße. Immer wieder stehen die Versammlun­gen in der Kritik. Ley Kothe organisier­t die „Montagsspa­ziergänge“mit und diskutiert mit Oberbürger­meister Thomas Kiechle über die Pandemie. Ein Ansichteng­espräch.

Die Masken fallen, Zugangsbes­chränkunge­n gibt es kaum mehr, die Impfpflich­t ab 18 Jahren ist vom Tisch: Warum gehen Sie noch auf die Straße?

Ley Kothe: Wir sind noch lange nicht da, wo wir gerne wären. Die Impfpflich­t ist weiterhin das große Thema, sie ist weder einrichtun­gsbezogen noch ab einem bestimmten Alter hinnehmbar. Ab dann ist es auch nicht mehr weit zu einer allgemeine­n Impfpflich­t. Wir warten ab, was der Bundestag an diesem Donnerstag entscheide­t. Sollte es gar keine Impfpflich­t geben, müssen wir uns Gedanken machen, ob und wie es weitergeht. Die Frage ist dann auch, ob wir überhaupt noch die Leute auf die Straße kriegen.

Herr Kiechle, Sie haben die Spaziergän­ge in Kempten angesichts des Kriegs in der Ukraine als „schwer erträglich“bezeichnet. Sehen Sie das nach wie vor so? Thomas Kiechle: Das sehe ich noch immer so. Mir ist wichtig zu betonen, dass ich sie nicht als „unerträgli­ch“oder „unmöglich“bezeichnet­e, das haben viele falsch verstanden. Ich habe dazu sehr viel Post bekommen, mit einigen der Absender habe ich Kontakt aufgenomme­n – das war gewinnbrin­gend. Die Spaziergän­ge sind meiner Meinung nach generell völlig in Ordnung. Wir müssen uns in der politische­n Auseinande­rsetzung wieder daran gewöhnen, mit

Thomas Kiechle ist CSU-Politiker und seit 2014 Oberbürger­meister der Stadt Kempten. Bis zu seiner Wahl arbeitete der 54Jährige als Lehrer. Dem Stadtrat gehörte Thomas Kiechle seit 2008 an. Als Sohn von Ignaz und Cäcilia Kiechle wuchs er in einer politisch und landwirtsc­haftlich geprägten Familie auf. unterschie­dlichen Haltungen zurechtzuk­ommen. Dennoch habe ich angesichts der schrecklic­hen Ereignisse in der Ukraine hinterfrag­t, wann der richtige Zeitpunkt ist, seine Positionen zu überdenken statt mit Kuhglocken durch die Stadt zu spazieren. Zumal auch viele Regeln schon gefallen sind.

Kothe : Für uns war dieser Vergleich unpassend. Da haben sich viele Menschen falsch verstanden und angegriffe­n gefühlt. Genau wegen solcher Punkte ist es auch wichtig, miteinande­r und nicht immer nur übereinand­er zu reden. Wir können die Situation in der Ukraine nicht ändern, so schrecklic­h sie ist. Aber wir können für das, was uns bewegt, auf die Straße gehen. Frieden war schon immer unser oberstes Schlagwort – und viele der Teilnehmer solidarisi­eren sich mit der Ukraine. Beim ersten Spaziergan­g nach Kriegsbegi­nn gab es überdies eine Schweigemi­nute. Wir machen das aber bewusst nicht jedes Mal, weil ansonsten der Vorwurf aufkommen könnte, dass wir den Krieg für unsere Zwecke instrument­alisieren.

Wie gehen Sie mit Kritik und Gegendemon­stranten um?

Kothe: Wir haben in den vergangene­n zwei Jahren viele schlechte Erfahrunge­n gemacht, wurden unter anderem als Schwurbler, Idioten, Wissenscha­ftsverweig­erer und Nazis bezeichnet. Trotzdem suchen wir das Gespräch. Immer wieder wird uns aber entgegenge­schrien: „Mit Querdenker­n reden wir nicht.“Zudem gab es auch Übergriffe, beispielsw­eise wurden wir mit Eiern beworfen.

In Kempten sind bei den „Spaziergän­gen“allerdings immer wieder Symbole rechter Gruppierun­gen zu sehen ...

Kothe: Was sind denn überhaupt diese rechten Symbole? Solche gibt es unseres Wissens nach in Kempten nicht. Es ist auch für uns nicht immer leicht, alles zu erkennen und zuzuordnen. Wenn wir Fahnen sehen, die wir für unpassend halten, reden wir persönlich mit den Leuten. Manche packen ihre Sachen dann weg, aber nicht alle. Ich habe auch den Eindruck, man sucht bei uns regelrecht nach fragwürdig­en Symbolen. Und wenn eine Person eine Reichsbürg­erfahne hochhält, heißt es am Ende, da waren 700 Reichsbürg­er unterwegs. Wir haben am Anfang öffentlich gesagt, dass wir kein rechtes Gedankengu­t propagiere­n wollen. Aber was sollen wir machen, wenn Einzelpers­onen oder Parteien versuchen die Spaziergän­ge zu instrument­alisieren und als Bühne zu nutzen? Wir können niemanden ausschließ­en. Das gibt das Versammlun­gsrecht nicht her und das wollen wir eigentlich auch gar nicht. Es geht ja um die Sache. Die Spaziergän­ge sollen unpolitisc­h sein.

Kiechle : Die Menschen haben sehr unterschie­dliche Motive, bei den Spaziergän­gen mitzugehen. Manche sprechen sich aus persönlich­en Gründen gegen eine Impfpflich­t aus, andere wollen generell ihren Protest zum Ausdruck bringen, auch das Thema Freiheit spielt eine Rolle. Die Zusammense­tzung war am Anfang sehr pluralisti­sch und für die Veranstalt­er schwer kontrollie­rbar. Jetzt nehme ich es so wahr, dass viele aus der bürgerlich­en Mitte mitlaufen, aus jeder Partei, aus jeder Altersklas­se. Kothe: Richtig. Es wurden aber von Anfang an alle Skeptiker in eine Schublade gesteckt.

Aber genau das erfolgt doch auch aus dem Kreis der Demonstran­ten: Es sind „die“Politiker, die für Maßnahmen stehen, es ist „die“Presse, die lügt?

Kothe: Man neigt zum Pauschalis­ieren, das ist menschlich – und das passiert auf beiden Seiten. Aber das ist genau der Punkt, warum wir an die Öffentlich­keit gehen und das Gespräch suchen. Wir müssen auch zugeben, dass von unserer Seite aus nicht alles ideal gelaufen ist. Wir müssen über das Schwarz-WeißDenken hinwegkomm­en, um wieder zueinander­zufinden.

Wie sehr ist die Gesellscha­ft gespalten?

Kiechle: Wir leben in einer gepolstert­en Gesellscha­ft, in der man es nicht mehr gewohnt ist, in Auseinande­rsetzungen zu gehen. Da darf man nicht zu empfindlic­h sein. Man muss auch mit Zumutungen zurechtkom­men. Als es in der Vergangenh­eit um den Nato-Doppelbesc­hluss oder die Atomkraft ging, gab es gefühlt einen unglaublic­hen Riss durch die Gesellscha­ft. Die Diskussion­en dazu sind vehement und erbittert geführt worden. Sich widersprec­hende Meinungen, zu denen man keinen Konsens findet, muss man in der Demokratie aushalten – und die Demokratie hat es ausgehalte­n. Deswegen bin ich sicher, dass das, was jetzt passiert, auch nicht zu einer Spaltung führt. Sondern dass es ein Markenzeic­hen eines demokratis­chen Staates ist, unterschie­dliche Haltungen zu ermögliche­n und auszuhalte­n.

Kothe: Ich sehe durchaus eine gesellscha­ftliche Spaltung – und die gab es meiner Ansicht nach sogar in der Realität. Durch die 2-G-Regel wurden Menschen ausgegrenz­t, die sich gegen eine Impfung entschiede­n haben. Ich zum Beispiel liebe Snowboardf­ahren, konnte seit zwei Jahren aber nicht auf die Piste. Das ist schon etwas seltsam. Ich bin Bürgerin dieses Landes, ich zahle Steuern, ich gehe meiner Arbeit nach und darf Dinge nicht machen, die eigentlich selbstvers­tändlich sind. Und das nur, weil ich Zweifel an der Impfung habe. Es hilft aber, dass jetzt viele Regeln weggefalle­n sind und alle wieder an der Gesellscha­ft teilhaben können.

Was kann man Ihrer Meinung nach gegen diese Spaltung tun? Kothe: Es ist wichtig aufzuarbei­ten, was die vergangene­n zwei Jahre passiert ist. Was angemessen war und was nicht. Wo sind wir eventuell einen falschen Weg gegangen? Ich persönlich fordere dazu einen Untersuchu­ngsausschu­ss im Bundestag. Ich will, dass die Entscheidu­ngen aufgrund der jeweiligen Datenlage zur jeweiligen Zeit hinterfrag­t werden. Für mich war der ausschlagg­ebende Punkt, auf die Straße zu gehen, als Lothar Wieler, der Präsident des Robert-KochInstit­uts, gesagt hat, dass ,diese Regeln nie hinterfrag­t werden dürfen’. (Anmerkung der Redaktion: Wieler bezog sich auf Hygienemaß­nahmen wie Händewasch­en, Abstand und Masken.) Gerade in einer Demokratie

muss es aber hinterfrag­t werden dürfen, wenn Bürgerrech­te eingeschrä­nkt werden.

Kiechle: Es ist aber auch wichtig zu erwähnen, dass die Krise durch ein Höchstmaß an Unwissen und Ungewisshe­it gekennzeic­hnet war und ist. Ich glaube, man kann der Politik da keinen Vorwurf machen, weil sie bis heute auf die fachliche Einschätzu­ng von anderen angewiesen ist. Wenn das alles aber vorbei ist, muss man kritisch darauf zurückblic­ken, zu welchen Zeitpunkte­n welche Kommunikat­ionsfehler geschehen sind. Gerade am Anfang gab es ja noch sehr viel Akzeptanz für die strengen Maßnahmen – von fast allen Seiten. Das ist gekippt, als sich viele Menschen nicht mehr wahrgenomm­en gefühlt haben. Das muss aufgearbei­tet werden, das sehe ich auch so. Auch ich selbst betrachte die Einführung einer Impfpflich­t mittlerwei­le differenzi­ert. Am Anfang dachte ich noch, sie könnte der Weg aus der Pandemie sein.

Kothe: Ich denke jedenfalls, dass wir gerade auf einem guten Weg sind. Die Diskussion wird offener geführt als noch vor einem Jahr. Kiechle: Die Tatsache, dass es Einschränk­ungen gegeben hat, muss man aber immer auch im Kontext der jeweiligen Situation sehen. Man darf die guten Absichten nicht vergessen. Wie schwierig das ist, haben alle im privaten Bereich erlebt, auch ich. Manchmal kann es eine Strategie sein, Dinge so stehen zu lassen, wie sie sind. In einer Freundscha­ft kann auch mal ein Thema nicht angesproch­en werden, wenn man den Weg nicht zueinander findet. Eine Gesellscha­ft braucht Zusammenha­lt, sonst zerstört sie sich selbst. Das Gespräch moderierte­n Simone Härtle und Aimée Jajes.

Ley Kothe ist seit anderthalb Jahren bei den Corona-Protesten aktiv. Mittlerwei­le ist sie die Hauptorgan­isatorin der „Spaziergän­ge“in Kempten. Die gelernte Köchin ist 35 Jahre alt und kommt ursprüngli­ch aus Aalen. Derzeit lebt Ley Kothe im Oberallgäu und engagiert sich für Änderungen in der Corona-Politik.

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FOTO: RALF LIENERT Zu den Corona-Spaziergän­gen in Kempten kommen nach wie vor Hunderte Teilnehmer – auch bei Wind und Wetter, wie zu dieser Versammlun­g. Das zentrale Thema der Protestler ist aktuell die Impfpflich­t.
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FOTO: MARTINA DIEMAND Organisier­t „Montagsspa­ziergänge“: Ley Kothe.
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FOTO: MARTINA DIEMAND Kemptens Oberbürger­meister Thomas Kiechle

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